Mehr, nicht weniger Parlamentarismus
Das Spitzenkandidatenmodell ist keine Frage der Demokratie, es schwächt vor allem den Parlamentarismus.
Obwohl die Verträge klar regeln, wie der EU-Kommissionspräsident, die Präsidentin gewählt wird (auf Vorschlag des Rats), obwohl es bei der Europawahl 2019 unter anderem aus genau diesem Grund gescheitert ist, kommt die Debatte 2024 wieder: über ein Spitzenkandidatenmodell. Demnach soll der Spitzenkandidat oder die Spitzenkandidatin jener Fraktion, die bei der Europawahl im Juni als Sieger hervorgeht, zum Präsidenten (zur Präsidentin) der Europäischen Kommission ernannt werden.
Argumentiert wird dazu gern, dass dieses Modell die europäische Demokratie stärke und es ja auch bei den nationalen Wahlen so ist, dass der Spitzenkandidat der siegreichen Partei Kanzler werde. Richtig ist, dass bei nationalen Wahlen normalerweise der Chef (Spitzenkandidat) der siegreichen Partei mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Dass es nicht so sein muss, hat der Chef der drittplatzierten Partei vor 24 Jahren in Österreich bewiesen. Diese Praxis führt auch bei vielen Menschen zu der irrigen Annahme, bei einer Wahl des nationalen Parlaments werde der Kanzler gewählt. So wollte beispielsweise ein österreichischer Möchtegern-Volkskanzler den derzeitigen Kanzler mit einem Social-Media-Posting delegitimieren, indem er ihm vorwarf, nie gewählt worden zu sein. Er hat damit, so wie viele seiner Anhänger, nur bewiesen, dass er die österreichische Verfassung nicht kennt. Der Kanzler wird vom Bundespräsidenten ernannt. Bei einer Nationalratswahl werden die Parlamentsmitglieder gewählt, also jene Volksvertreter, die im Auftrag der Bürger die Regierung kontrollieren sollten. Dass das in einer Parteiendemokratie nicht ganz so ist, wissen wir, es macht aber das Spitzenkandidatenmodell bei der Europawahl keineswegs besser.
Bei der EU-Wahl ist die Lage komplizierter. Es gibt nämlich gar keine europäische Liste. Ein Spitzenkandidat kann also nur im Wahlkreis seines EU-Mitgliedslandes gewählt werden. JeanClaude Juncker stand 2014 auf gar keiner Liste für die Europawahl, wurde also wie Ursula von der Leyen nicht gewählt, war aber trotzdem Kommissionspräsident. Juncker ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie das Spitzenkandidatenmodell den Parlamentarismus schwächt. Nach Auffliegen von LuxLeaks hätte ein starkes Europäisches Parlament den Kommissionspräsidenten abwählen müssen. Wer aber hätte dann in der Logik des Spitzenkandidatenmodells Kommissionspräsident werden dürfen? Vorgezogene Neuwahlen gibt es für das EP nicht. Das Spitzenkandidatenmodell schwächt also das Parlament. Der Spitzenkandidat schielt nach vielen Stimmen, um dann das Mandat nicht anzunehmen.
Schwächen beklagen ist okay
Auch wenn man personelle Schwächen beklagen kann, bietet das Institutionengefüge der EU eine Balance zwischen Intergouvernmentalität und Supranationalität. Wenn die nationalen Egoismen im Rat zu stark sind und der Rat damit insgesamt zu schwach für eine europapolitische Dimension wird, müssen das die supranationalen Elemente Kommission und Parlament ausgleichen. Dann muss die Kommission als Hüterin der Verträge die geopolitische Dimension der EU vorantreiben und braucht dazu die Kontrolle eines starken Parlaments, das sich nicht durch Bindung an einen Spitzenkandidaten selbst fesselt.
Das Europäische Parlament ist übrigens keine Vertretung der Mitgliedsländer auf EU-Ebene. Auch wenn das Nationalisten gern so hätten. Durch seine erste Direktwahl vor 45 Jahren hat es eine eindeutig europäische Verantwortung bekommen. Es ist also die Vertretung der Bürger mit Verantwortung für das Ganze.