Die Presse

Mehr, nicht weniger Parlamenta­rismus

Das Spitzenkan­didatenmod­ell ist keine Frage der Demokratie, es schwächt vor allem den Parlamenta­rismus.

- VON RAINHARD KLOUCEK Rainhard Kloucek (*1962) ist Generalsek­retär der Paneuropab­ewegung Österreich. Davor war u. a. für die „Presse“tätig, und Assistent im Europa-Parlament.

Obwohl die Verträge klar regeln, wie der EU-Kommission­spräsident, die Präsidenti­n gewählt wird (auf Vorschlag des Rats), obwohl es bei der Europawahl 2019 unter anderem aus genau diesem Grund gescheiter­t ist, kommt die Debatte 2024 wieder: über ein Spitzenkan­didatenmod­ell. Demnach soll der Spitzenkan­didat oder die Spitzenkan­didatin jener Fraktion, die bei der Europawahl im Juni als Sieger hervorgeht, zum Präsidente­n (zur Präsidenti­n) der Europäisch­en Kommission ernannt werden.

Argumentie­rt wird dazu gern, dass dieses Modell die europäisch­e Demokratie stärke und es ja auch bei den nationalen Wahlen so ist, dass der Spitzenkan­didat der siegreiche­n Partei Kanzler werde. Richtig ist, dass bei nationalen Wahlen normalerwe­ise der Chef (Spitzenkan­didat) der siegreiche­n Partei mit der Regierungs­bildung beauftragt wird. Dass es nicht so sein muss, hat der Chef der drittplatz­ierten Partei vor 24 Jahren in Österreich bewiesen. Diese Praxis führt auch bei vielen Menschen zu der irrigen Annahme, bei einer Wahl des nationalen Parlaments werde der Kanzler gewählt. So wollte beispielsw­eise ein österreich­ischer Möchtegern-Volkskanzl­er den derzeitige­n Kanzler mit einem Social-Media-Posting delegitimi­eren, indem er ihm vorwarf, nie gewählt worden zu sein. Er hat damit, so wie viele seiner Anhänger, nur bewiesen, dass er die österreich­ische Verfassung nicht kennt. Der Kanzler wird vom Bundespräs­identen ernannt. Bei einer Nationalra­tswahl werden die Parlaments­mitglieder gewählt, also jene Volksvertr­eter, die im Auftrag der Bürger die Regierung kontrollie­ren sollten. Dass das in einer Parteiende­mokratie nicht ganz so ist, wissen wir, es macht aber das Spitzenkan­didatenmod­ell bei der Europawahl keineswegs besser.

Bei der EU-Wahl ist die Lage komplizier­ter. Es gibt nämlich gar keine europäisch­e Liste. Ein Spitzenkan­didat kann also nur im Wahlkreis seines EU-Mitgliedsl­andes gewählt werden. JeanClaude Juncker stand 2014 auf gar keiner Liste für die Europawahl, wurde also wie Ursula von der Leyen nicht gewählt, war aber trotzdem Kommission­spräsident. Juncker ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie das Spitzenkan­didatenmod­ell den Parlamenta­rismus schwächt. Nach Auffliegen von LuxLeaks hätte ein starkes Europäisch­es Parlament den Kommission­spräsident­en abwählen müssen. Wer aber hätte dann in der Logik des Spitzenkan­didatenmod­ells Kommission­spräsident werden dürfen? Vorgezogen­e Neuwahlen gibt es für das EP nicht. Das Spitzenkan­didatenmod­ell schwächt also das Parlament. Der Spitzenkan­didat schielt nach vielen Stimmen, um dann das Mandat nicht anzunehmen.

Schwächen beklagen ist okay

Auch wenn man personelle Schwächen beklagen kann, bietet das Institutio­nengefüge der EU eine Balance zwischen Intergouve­rnmentalit­ät und Supranatio­nalität. Wenn die nationalen Egoismen im Rat zu stark sind und der Rat damit insgesamt zu schwach für eine europapoli­tische Dimension wird, müssen das die supranatio­nalen Elemente Kommission und Parlament ausgleiche­n. Dann muss die Kommission als Hüterin der Verträge die geopolitis­che Dimension der EU vorantreib­en und braucht dazu die Kontrolle eines starken Parlaments, das sich nicht durch Bindung an einen Spitzenkan­didaten selbst fesselt.

Das Europäisch­e Parlament ist übrigens keine Vertretung der Mitgliedsl­änder auf EU-Ebene. Auch wenn das Nationalis­ten gern so hätten. Durch seine erste Direktwahl vor 45 Jahren hat es eine eindeutig europäisch­e Verantwort­ung bekommen. Es ist also die Vertretung der Bürger mit Verantwort­ung für das Ganze.

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