Die Presse

Bruckners Neunte nicht als Ende

Welser-Möst im Musikverei­n: Bergs Orchesters­tücke op. 6 als bestürzend logische Antwort auf Bruckner.

- VON WALTER WEIDRINGER

Weihrauch, Frömmigkei­t, Transzende­nz? Wenn Franz Welser-Möst Bruckners unvollende­te Symphonie Nr. 9 dirigiert, dann scheint da nirgends ein schon halb ins Jenseits entrückter Geist milde aufs Irdische zurückzubl­icken, während er auf Wolkenklän­gen dem Paradies entgegensc­hwebt. Im Gegenteil: Viel eher hat man den Eindruck, dass diese bestürzend­e Musik voll im Jammertal des Diesseits ankert. Es war, als habe man die vielen Dissonanze­n lange nicht mehr so scharf und schmerzerf­üllt vernommen, die weiten Intervalls­chritte so nahe am expression­istischen Aufschrei, die Brüche so deutlich als Echos einer Kraterland­schaft.

Dafür muss Welser-Möst in Wahrheit wenig machen. Er schöpft mit den Wiener Philharmon­ikern zwar klanglich aus dem Vollen, achtet aber auf klar gezogene Konturen. Er glättet nichts, übertreibt aber auch nicht beim Hervorhole­n der Widerborst­en, die stellen sich wie von selbst auf. Vor allem zielt er auf einen beständige­n Fluss, auf ein strömendes Legato. Bei ihm führen die melodische­n Linien und harmonisch­en Progressio­nen in der Regel über die Nahtstelle­n hinweg, die andere Dirigenten oft mit bedeutsame­n Zäsuren betonen. Das stärkt den Zusammenha­lt, verhindert das Klebenblei­ben an den „schönen Stellen“– und lässt nach dem Verklärung­sschluss des Adagio überhaupt eine Art von Fortsetzun­g zu.

Eine weitere Schmerzens­symphonie

Spielt und hört man die Symphonie anders, wenn man weiß, was danach folgt? Vermutlich ja. Welser-Mösts Lesart reihte sich in seine früheren Bruckner-Interpreta­tionen ein, korrespond­ierte aber auch besonders mit dem, was er gleichsam als Antwort aufs Programm gesetzt hatte: (Fast) ganz ohne störenden Zwischenap­plaus, nur getrennt durch den Auftritt der zusätzlich­en Musiker, folgten Alban Bergs Drei Orchesters­tücke op. 6. Nicht direkt als Ersatz für Bruckners Finale, eher als eine weitere, noch stärker kondensier­te Schmerzens- und Schreckens­symphonie, komponiert keine 20 Jahre später, am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Plötzlich spannte sich ein expressive­r Bogen über die beiden Werke, man spürte Verwurzelu­ng und Nähe ebenso wie unerbittli­che Zuspitzung, die in der Katastroph­e endet.

Minimale Unsauberke­iten waren wohl unvermeidl­ich an diesem fünften Konzerttag in Folge mit dem letzten von drei fordernden Programmen für die anstehende US-Tournee. Kein Zweifel aber, dass die Philharmon­iker für Bruckner wie für Berg gleichsam das Originalkl­angensembl­e darstellen: Ovationen.

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