Mehr Wachstum schafft nicht mehr EU-Fans
Milliarden aus dem EU-Haushalt fließen in ärmere Regionen. Aber das reicht nicht aus, den Bürgern das Gefühl zu geben, die EU arbeite für sie. Bei weniger Gebildeten bleibt dennoch das Empfinden einer Benachteiligung.
Die Wohlstandsniveaus innerhalb der EU sind, selbst wenn man sie kaufkraftbereinigt vergleicht, noch immer enorm. Im Jahr 2019 beispielsweise betrug die Wirtschaftsleistung pro Kopf in der Hauptstadtregion Sofia 163 Prozent des bulgarischen Durchschnitts. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Hamburg entsprach ebenfalls 163 Prozent des deutschen Gesamtwertes. Doch im Vergleich zu den zehn langfristig reichsten Regionen in Nordwesteuropa beträgt Sofias Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung nur 22 Prozent – während jene Hamburgs 162 Prozent ausmacht.
Eine neue Studie von Alexia Katsanidou (Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Universität Köln) und Quinton Mayne (Harvard Kennedy School, Harvard University) widmet sich vor diesem Hintergrund einer Frage, die weniger als 100 Tage vor der Europawahl politisch hoch brisant ist, nämlich: wie wirken sich unterschiedliche Wohlstandsniveaus in den Regionen auf die Einstellung der Bürger zur EU aus? Sind Menschen in reicheren Regionen der EU gegenüber freundlicher gesinnt als solche in ärmeren? Oder anders formuliert: Wie ist das in Regionen, die besonders stark von Kohäsionsmitteln profitieren?
Schock von Trump und Brexit
Spätestens seit dem Wahlsieg von Donald Trump und dem Brexit, die vor acht Jahren fast zeitgleich geschahen, ist die Frage danach, wie das Ressentiment gegen die Globalisierung in politischen Einfluss gemünzt werden kann, ein heißer Forschungsgegenstand für Ökonomen und Politologen zugleich. Und sie treibt auch die Brüsseler Politikmaschinerie um. Nicht zuletzt unter dem Schock von Trump und Brexit hat die aktuelle EU-Kommission eine ihrer Prioritäten „eine Wirtschaft im Dienste der Menschen“genannt.
„Verlierer der Globalisierung … haben Gründe, die EU abzulehnen“, halten Katsanidou und Mayne fest. „Die EU hat ökonomische Bedingungen eingeführt, die ihnen nicht nutzen, während sie kosmopolitische Werte fördert, denen sie widersprechen, und offene Grenzen, die sie als Herausforderung für ihre Position auf dem Arbeitsmarkt wahrnehmen.“Umgekehrt sind Menschen mit höherer Bildung, die dadurch die Chancen der Globalisierung ergreifen können, deutlich öfter für die EU.
Die beiden Forscher wollten nun prüfen, ob dieser Wissenseffekt (je gebildeter, desto mehr pro EU) davon beeinflusst wird, wie die wirtschaftliche Lage in der jeweiligen Region ist. Wirkt sich dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit darauf aus?
Oder deren Sinken? Und wie ist das mit langfristig starker oder schwacher wirtschaftlicher Leistung einer Region?
Dafür nutzten sie einen wahrhaftigen Datenschatz: 29 Wellen von Eurobarometer-Umfragen der Jahre 2004 bis 2019, was Antworten von rund 750.000 Europäern entspricht. Ob jemand ein Globalisierungsgewinner oder -verlierer ist, legten sie anhand der Bildungsabschlüsse dieser Umfrageteilnehmer fest. Und wie es den jeweiligen Regionen wirtschaftlich geht, maßen sie anhand zweier Größen: erstens dem BIP pro Kopf, gemessen an den zehn historisch wohlhabendsten Demokratien West- und Nordeuropas. Und zweitens an den regionalen Arbeitslosenraten.
Was fanden sie heraus? Erstens gibt es keine statistische Evidenz dafür, dass die Bildungslücke bei der Frage, ob man die EU gut oder schlecht findet, sich in Regionen mit schlechter oder guter Wirtschaftslage wesentlich ändert, und auch nicht bei Verbesserung oder Verschlechterung der Konjunktur. Sprich: Wer mehr Bildung hat, befürwortet die EU unter allen Umständen
deutlich mehr als schlechter Gebildete.
Zweitens war die EU-Unterstützung in reicheren Regionen bei Gebildeteren und weniger Gebildeten während der Großen Rezession und danach höher als in ärmeren Regionen – aber nicht davor. Drittens haben langfristige Arbeitslosenraten keine nennenswerte Auswirkung auf die Einstellung der Bürger gegenüber der EU. Sehr wohl aber steigt die Zustimmung in Regionen, die ein Sinken der Arbeitslosigkeit verzeichnen: und das bei Gewinnern und Verlierern der Globalisierung gleichermaßen. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Große Rezession, während der die EU mit einschneidenden Sanierungsprogrammen, aber auch mit milliardenschweren Hilfskrediten die Eurozone über Wasser hielt, eine Zäsur in der Wahrnehmung der Menschen darstellte. Die EU spielt seither für sie im wirtschaftlichen Leben eine größere Rolle als zuvor.
Glaube an Hilfe durch EU fehlt
Die politisch brisante Erkenntnis versteckt sich in einem Nebensatz der Studie: „Wir finden keine statistische Evidenz, dass EU-Unterstützung zunimmt, wenn das regionale BIP pro Kopf steigt.“Hier schließt sich der Kreis zur Kohäsionspolitik, der innereuropäischen Entwicklungshilfe, die mit 392 Mrd. Euro den größten Posten im EU-Haushaltsrahmen ausmacht. Sie wird von Kommission und Nettoempfängern stets mit Hinweis auf die Entwicklung des BIPs pro Kopf in geförderten Regionen legitimiert.
„Unsere Forschung zeigt klar, wie diese Gruppe von Menschen nicht daran glaubt, dass die EU für sie arbeitet. Dass das sogar in den besser abschneidenden Regionen Europas stimmt, sollte für öffentliche Amtsträger Grund zur Sorge sein“, so Katsanidou und Mayne. „Sich auf das aggregierte positive Abschneiden von Regionen zu konzentrieren kann davon ablenken oder es unterspielen, wie öffentliche Politik die vielfältigen Nachteile anzusprechen versagt, die weniger gebildete Menschen und ihre Familien erfahren, und wie der soziale Kontrakt, der den europäischen Wohlfahrtsstaat unterfüttert, sie im Stich lässt.“