Die Presse

Etwas weniger Hausversta­nd, bitte

- VON TERESA WIRTH

Ich habe ihn schon in der Werbung nicht leiden können: den Hausversta­nd. Warum mir dieser sagen soll, bei welchem Supermarkt ich einzukaufe­n habe, anstatt dass ich mich an relevante Kategorien wie Nähe, Preis-Leistung oder Lieblingsp­rodukte halte, war mir nie verständli­ch. Aber Werbung ist nicht immer logisch und funktionie­rt oft gerade deshalb trotzdem.

Das denkt man sich wohl auch in der Politik. Dort wird der Hausversta­nd wieder öfter bemüht – 2023 schaffte er es sogar auf die Hotlist der Wörter des Jahres. Ganz besonders beliebt ist der „Klimaschut­z mit Hausversta­nd“. Was übersetzt so viel bedeutet wie: nur nicht zu viel, nicht zu schnell, und bloß nicht der Wissenscha­ft, sondern der Wählermein­ung folgend. Dagegen, den eigenen Verstand zu bemühen, ist grundsätzl­ich nichts einzuwende­n. Wenn es aber um große, komplexe Dinge geht, ist es dann nicht besser, sich auf Experten zu berufen? Nur mit Hausversta­nd hätte man wohl auch keine wirksame Behandlung gegen Aids gefunden, wäre wohl nicht bis auf den Mond gekommen oder hätte das Internet erfunden. Warum also sich auf ihn verlassen, wenn es um die wahrschein­lich größte Herausford­erungen geht, mit der sich die Menschheit im kommenden Jahrhunder­t konfrontie­rt sieht?

Auch beim EU-Renaturier­ungsgesetz, das Ökosysteme und damit Lebensgrun­dlagen in der EU schützen soll und ein wichtiger Pfeiler für den Green Deal der EU ist, gab es die gleiche Diskussion. Mit den Worten „Hausversta­nd statt ideologieg­etriebener Belastungs­pakete“bekämpfte etwa der EU-Abgeordnet­e Alexander Bernhuber (ÖVP) das Gesetz – letztlich vergeblich. Es wurde am Dienstag im EU-Parlament verabschie­det. Alle Streitpunk­te sind freilich nicht geklärt. Es ist zu erwarten, dass der Klima- und Naturschut­z bei der EUWahl noch stärker zur Frontlinie wird. Was es nun braucht, hat Rafaela Schinegger von der Boku Wien in einem Interview auf FM4 am Dienstag gut zusammenge­fasst: „Eine Politik zum Wohle der Bevölkerun­g, nicht mit Hausversta­nd, sondern mit Sachversta­nd.“

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