Gentherapie verspricht Durchbrüche
Immer mehr gentherapeutische Verfahren stehen vor einer Zulassung. Sie sind derzeit vor allem dann aussichtsreich, wenn einzelne Gene die Erkrankung verursachen.
Rund 80 Prozent der 8000 bekannten seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt oder mitbedingt. Die meisten, rund 95 Prozent, sind bislang nicht heilbar. Als Hoffnungsträger der Zukunft gelten Gentherapien, die den genetischen Defekt in Körperzellen ursächlich behandeln. Sie haben laut Experten wie Claas Röhl, Vorstandsmitglied von Pro Rare Austria, „das Potenzial, die Behandlung seltener Erkrankungen künftig maßgeblich voranzubringen und die Lebensqualität und -erwartung der Patienten entscheidend zu verbessern“.
50-mal auf gutem Weg
Das Tempo des medizinischen Fortschritts ist hoch. Gab es vor zehn Jahren noch so gut wie gar keine Gentherapie, so sind mittlerweile für rund 50 der 8000 Erkrankungen gentherapeutische Ansätze auf einem guten Weg, für eine Handvoll sogar schon weitgehend am Ziel. Bekanntestes Beispiel ist die Gentherapie für die Spinale Muskelatrophie, die – rechtzeitig angewandt – Kindern ein weitgehend normales Leben ermöglicht (siehe Seite F2). Ein anderes Beispiel ist die Bluterkrankheit (Hämophilie). „Die Hämophilie ist eine sehr gute Modellerkrankung für diesen Zugang“, erklärt Cihan Ay von der Klinischen Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Med-Uni Wien. „Es wird genetisches Material in die Zellen der Patienten eingebracht. Wir wollen den Schweregrad der Erkrankung transformieren, eine schwere Hämophilie in eine milde Form verwandeln.“Die Methodik der Genaddition beruht auf dem Ersetzen eines defekten oder fehlenden Gens. Das therapeutische Gen wird mittels eines Vektors in die Zelle eingebracht und übernimmt die Proteinherstellung. Das fehlerhafte Gen bleibt erhalten und kann trotz Gentherapie an die nächste Generation vererbt werden. Die Genaddition ist unter den Gentherapien der am weitesten entwickelte Ansatz
zur Behandlung von Krankheiten, die durch die Mutation in einem einzelnen Gen ausgelöst werden. Diese monogenetischen Erkrankungen stellen die größte Gruppe von Erbkrankheiten dar.
Blutstammzellen modifizieren
Zu den seltenen Erkrankungen, bei denen Gentherapien bereits erfolgreich entwickelt und eingesetzt werden, zählt laut dem European Consortium for Communicating Gene and Cell Therapy Information (EuroGCT) auch die metachromatische Leukodystrophie (MLD), bei der Fettmoleküle nicht abgebaut werden und sich in den Zellen ablagern, insbesondere im Gehirn, im Rückenmark und in den peripheren Nerven. Bei Menschen mit MLD können unter anderem schwerwiegende sensorische Probleme (Blindheit, Hörstörungen oder der Verlust, Empfindungen wie Berührung, Schmerz oder Wärme wahrzunehmen) und kognitive Probleme wie der Verlust der Gedächtnisleistung auftreten. Krampfanfälle und Psychosen sind bei MLD ebenfalls häufig. Wird kein geeigneter Spender für eine Blutstammzelltransplantation gefunden, besteht die Möglichkeit, eine hybride Genzelltherapie zum Einsatz zu bringen, die in Europa im Jahr 2020 zugelassen wurde. Dabei werden die eigenen Blutstammzellen des Patienten entnommen, im Labor so modifiziert, dass sie Fettmoleküle abbauen, und dann wieder in den Körper injiziert.
Kopf-Gewitter verhindern
Erfolge mit Gentherapien gibt es auch bei der fokalen Epilepsie, einer seltenen genetischen Epilepsiestörung, bei der die Anfälle nur in bestimmten Hirnregionen auftreten. Bei fokalen Epilepsien versagen Medikamente häufig und haben zudem starke Nebenwirkungen, die Lernen und Gedächtnis beeinträchtigen können. „Vielen Betroffenen können wir leider nicht wirklich gut helfen. Deshalb haben wir einen konzeptionell neuen Therapieansatz entwickelt“, sagt Regine Heilbronn, Leiterin der Arbeitsgruppe Gentherapie an der Klinik für Neurologie der Charité – Universitätsmedizin und Mitgründerin von EpiBlok Therapeutics. Das 2022 aus der Charité und der Med-Uni Innsbruck gekommene Spin-off arbeitet an einer Gentherapie, die auf das Eiweiß Dynorphin fokussiert, dessen Konzentration bei fokaler Epilepsie oft zu niedrig ist. Das Dynorphin-Gen wird mithilfe eines Genvektors in die betroffenen Nervenzellen eingeschleust, die in der Folge beginnen, den Eiweißstoff zu produzieren. An Mäusen konnten die Wissenschaftler bereits zeigen, dass die Gentherapie sicher ist und nach einmaliger Anwendung epileptische Anfälle mehrere Monate unterdrückt. Nun will man die Therapie gegen das „Gewitter im Kopf“zur Marktreife bringen.