Kein Staat soll von der Venedig-Biennale „gecancelt“werden
Über 14.000 Künstler und „Kulturarbeiter“fordern die Biennale auf, Israel auszuladen. Gegenstimmen? Kaum. Es macht einen fassungslos.
Vor zwei Tagen erst war an dieser Kolumnen-Stelle schon zu lesen: „Ist Israel-Feindlichkeit der Common Ground in der Kulturszene?“Die Antwort heißt immer klarer: Ja. Jedenfalls der öffentlich in Erscheinung tretenden Kulturszene. Der Rest zieht sichtlich das Schweigen vor.
Vor zwei Tagen ging es noch um die einseitigen propalästinensischen Solidaritätsbekundungen bei der Berlinale-Abschlußgala. Und um die Diskussionen beim Eurovisions-Songcontest, wo überlegt wird, Israel wegen eines angeblich politischen Liedtextes nicht teilnehmen zu lassen. Hier und jetzt muss Ähnliches aus dem Vorfeld der Biennale Venedig berichtet werden.
Über 14.000 Künstler, Architekten, Kuratoren, „Kulturarbeiter“und „Studenten“setzten bereits ihre Namen unter einen öffentlichen Brief an die Biennale-Venedig-Leitung. Sie fordern, Israel von der diesjährigen 60. Kunstbiennale auszuschließen, die im April beginnt. Die dahinterstehende Organisation nennt sich „Art Not Genocide Alliance“(Anga) und agiert wie viele andere propalästinensischen, aktivistischen Bewegungen: Israel wird Genozid vorgeworfen und als Apartheitsstaat bezeichnet. Mit keinem einzigen Wort wird die Hamas oder werden die Geiseln erwähnt, die immer noch festgehalten werden.
Was soll man dazu noch sagen, was noch nicht gesagt wurde? Israel wird als einziger Täter identifiziert, in diesem Showdown des postkolonialen Diskurses, der seit Jahren in der Kulturszene und seinem angeschlossenen akademischen Bereich gepflegt wird. Ein Täter, der auch als Stellvertreter für den Westen und den Kapitalismus dient, den es zu geißeln gilt. Was dabei herauskommt, sah man bei der vorigen Documenta und der Berlinale: Es öffnet einen institutionellen Raum für antisemitische Äußerungen in einer Naivität und Verbohrtheit, die einen fassungslos macht. Und auf den diese Institutionen nicht vorbereitet waren und sichtlich noch immer nicht sind.
Natürlich soll Israel nicht von der Biennale Venedig ausgeschlossen werden. Wird es auch nicht, wie Italiens Kulturminister Gennaro Sangiuliano am Mittwoch bekannt gab. Überhaupt soll kein anerkannter Staat von einer internationalen Kulturveranstaltung, die die Welt abbilden soll, ausgeschlossen werden. Auch ein kriegsführender wie Russland nicht. Dieses Nebeneinander muss ein demokratischer Zugang zur Welt aushalten, vor allem im Kulturbereich.
Denn wo fängt man an, wo hört man auf mit dem „Canceln“, mit der Ein- und Ausladerei? Wer bestimmt die Kriterien? Bei welchem Krieg? Bei welchem genozidalen Verbrechen? Wo bleiben die Diskussionen bei den USA, China, Saudiarabien, der Türkei?
Russland ist ein interessantes Beispiel: Bei der Biennale 2022 war es nicht dabei. Die russischen Künstler und Kuratoren haben ihren Beitrag zurückgezogen, der Pavillon blieb geschlossen. Das wird er auch dieses Jahr bleiben. Ob verordnet oder ob Russland selbst das beschloss, ist nicht klar, eine Anfrage der „Presse“bei der Biennale Venedig wurde (noch) nicht beantwortet.
„Doppelte Standards“werden im offenen Anga-Brief allen vorgeworfen: den israelischen Kuratorinnen, die den der Mutterschaft gewidmeten Beitrag organisieren, wie auch der Biennale-Leitung, die 2022 eindeutig für die Ukraine Stellung bezog.
Doch anders als ursprünglich dargestellt, haben sehr wohl palästinensische Künstler im Rahmenprogramm der Biennale eine Ausstellungsmöglichkeit bekommen. Programmiert wird der Israel-Pavillon von der Chefkuratorin der Tel Aviv Museums, das in einer Erklärung das Leid im Gazastreifen sehr wohl bedenkt. Im AngaBrief aber ist kein Wort von der Hamas oder von den israelischen Geiseln zu lesen. Dagegen sollten die 14.000 Künstler protestieren. Oder auch andere 14.000 Künstler. Umgehend.
Wo fängt man an, wo hört man auf mit dem „Canceln“? Wer sollte denn die Kriterien bestimmen in der heutigen polarisierten Welt?