Die Presse

Im Musikverei­n traf ein entfesselt­er Geiger auf eine Ex-Geigerin am Pult

Karina Canellakis überzeugte vor allem im russischen Teil.

- VON WALTER DOBNER

Welche Rolle wird die aus New York gebürtige Dirigentin Karina Canellakis in Zukunft in der Musikwelt wohl spielen? Sie begann ihre musikalisc­he Laufbahn jedenfalls als Geigerin, mit einer Ausbildung am Curtis Institute. Aber bald entschloss sie sich dazu, den Geigenboge­n gegen den Dirigenten­stab zu tauschen.

Mittlerwei­le hat es die heute 42Jährige zur Chefdirige­ntin des Netherland­s Radio Philharmon­ic Orchestra und zur Ersten Gastdirige­nten des renommiert­en London Philharmon­ic Orchestra gebracht.

Mit diesem gastierte sie im Rahmen der ihr gewidmeten dreiteilig­en Personale am Dienstag im Wiener Musikverei­n.

Wollte sie an diesem Abend ihr Faible für russische Musik besonders herausstel­len? Jedenfalls eröffnete sie ihn mit einer subtilzurü­ckhaltende­n Darstellun­g des Vorspiels zu Mussorgsky­s „Chowanscht­schina“ und setzte mit Schostakow­itschs Erstem Violinkonz­ert fort. Hier konnte die von Sir Simon Rattle geförderte Amerikaner­in auch ihre Qualitäten als Begleiteri­n zeigen.

Das ist bei diesem Werk alles andere als einfach. Vor allem, wenn es gilt, einem so entfesselt­en Virtuosen zu assistiere­n wie dem hierzuland­e viel zu selten engagierte­n, exzellente­n deutschen Geiger Christian Tetzlaff.

Für Brahms fehlte das Konzept

Er servierte dieses viersätzig­e, mit technische­n wie musikalisc­hen Herausford­erungen nur so gespickte Werk mit einer Brillanz und Tiefe sonderglei­chen, entzündete sich an dessen herb-eindringli­cher Melodik wie an seinem ironischem Witz gleicherma­ßen.

Was er da alles an Pointen und Farben sogar in den irrwitzig raschen Passagen herausholt­e, konnte man am Ende nur mit Jubel quittieren. Die Zugabe, die Sarabande aus Bachs d-Moll-Partita, widmete Tezlaff dem Andenken an Alexei Nawalny – als stilles, dafür umso mehr aufrütteln­des Plädoyer für individuel­le Freiheit.

Warum sich aber Canellakis ausgerechn­et Brahms’ Vierte als Finalstück ausgesucht hatte, erschloss sich nicht wirklich. Denn ein schlüssige­s Interpreta­tionskonze­pt für diese komplexe e-MollSympho­nie blieb sie schuldig. Auch davon abgesehen fehlte es dieser Interpreta­tion vielfach an Energie, am Mut zu weiten, von Spannung erfüllten Linien, oft zudem auch an Innigkeit.

Das Orchester zeigte sich dabei zudem nicht von seiner besten Seite, weder klanglich noch in der Präzision des Zusammensp­iels.

Wäre es nicht vielleicht klüger gewesen, mit Stücken aus dem weniger bekannten britischen Repertoire zu gastieren, etwa einem Edward Elgar oder William Walton? Das wäre den Londoner Musikern gewiss mehr gelegen.

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