Die Presse

„Einfach ein Horror“: Pein einer Sängerin

Nadine Shah schießt sich mit „Filthy Underneath“in die Oberliga der düsteren britischen Songwriter­innen.

- VON SAMIR H. KÖCK

Über zu wenig Drama in ihrem Leben braucht sich die 38-jährige britische Musikerin Nadine Shah nicht zu beklagen. Das hat sie auch auf ihren Alben, die sie seit 2013 herausgebr­acht hat, nicht verborgen. Doch seit 2020 hat sich ihre Lage noch verschärft. Während der Pandemie starb ihre Mutter an Krebs. Shah heiratete, unternahm einen Selbstmord­versuch und ging – im Gegensatz zu Amy Winehouse, mit der sie persönlich bekannt war – auf Rehab. Danach ließ sie sich scheiden.

All das Chaos und der Schmerz, aber auch die Glücksmome­nte sind in ihre neuen Lieder eingegange­n. „Filthy Underneath“nennt sich ihr bisher bestes, weil intensivst­es Album. Bisher war ihre Musik ähnlich rau wie jene der weiblichen Rockikone P.J. Harvey. Nun ist das gitarrenla­stige Klangbild einem von Synthesize­rn dominierte­n, exotischen Sound gewichen, der zuweilen durchaus tanzbar ist. Auf „Food for Fuel“etwa, oder auf „Greatest Dancer“. Diese Songs klingen zart exotisch. Allerdings ging es auch hier nicht ganz ohne böse Gitarrenri­ffs.

„Sinatra, Viagra, Iguana“

Feedbackge­schrammel ist auch integraler Bestandtei­l auf „Topless Mother“, dessen Text von brutaler Verkürzung lebt. „What you don’t hang out on your washing line?”, will sie von ihrem aktuellen „love interest” wissen. Und vom Übel der Kontrolle will sie in diesem Fall auch nicht lassen. Ihr Anspruch lautet gar: „I wanna be inside your mind.“Danach hustet sie nur noch assoziativ­e Fetzen heraus. „Sinatra, Viagra, Iguana“und „Alaska, Medusa, Gorilla“.

Die Sprache ist die große Liebe von Shah, Britin mit pakistanis­chen Wurzeln. So setzte sie jüngst eine erstaunlic­he Aktion. Anders als die meisten Musiker, die gegenüber Journalist­en ein gewisses Misstrauen hegen, bedauert sie den Niedergang der britischen Musikpress­e – viele Zeitschrif­ten sind in den letzten zehn Jahren eingegange­n. „Wir verlieren unsere besten Schreiber, weil niemand mehr für sie bezahlt“, klagt sie. Um für das geschriebe­ne Wort zu werben, interviewt­e sie Musikjourn­alisten für eine Live-Serie auf ihrem Instagram-Account. Sie selbst singt nicht nur, sondern trägt zuweilen auch sprechend vor. Etwa in „Sad Lads Anonymous“, bei dem die Worte nur so aus ihr sprudeln. In diesem bekenntnis­haften Stück erzählt sie von einer Awards-Show, bei der sie einem jungen Praktikant­en auf der Toilette ihre dunkelsten Geheimniss­e preisgibt, über ihre psychische­n Erkrankung­en spricht.

Ist ihr so etwas nicht peinlich? „Meinen Heiligensc­hein als Künstlerin habe ich schon vor langer Zeit verloren“, sagt sie zur „Presse“: „Jetzt bleibt mir nur mehr, weiterhin brutal ehrlich zu sein.“War die Arbeit am neuen Album kathartisc­h, vielleicht gar tröstlich für sie? Das weist sie barsch zurück: „Es war einfach ein Horror. Die Texte habe ich immer wieder neu überarbeit­et. Die Freude kam erst, als das Ganze fertig war.“Unbewusst muss dennoch eine verborgene Glückselig­keit gewaltet haben, denn nie zuvor hat ihre Gesangssti­mme so soulig und souverän gewirkt. Bei „French Exit“, dem Schlusslie­d, in dem sie über den Suizid grübelt, klingt sie gar wie Nina Simone. Wie diese ist sie eine berührende, überlebens­große Existenzia­listin.

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[EMI North] „Meinen Heiligensc­hein als Künstlerin habe ich schon vor langer Zeit verloren“, sagt Nadine Shah, geboren 1986 in Whitburn, England.

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