Höchste Zeit für eine fünfte EU-Grundfreiheit: Energie
Gastkommentar. Über die Vorteile einer europäischen Energiemarktintegration gegenüber nationalem Protektionismus.
Die schlechte Nachricht: Österreich und Europa stecken weiterhin in einer Energiekrise, da globale Konkurrenten in Amerika und Asien Gas und Strom deutlich günstiger beziehen als hier. Das beeinträchtigt das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit stark, was sich in niedrigen Konjunkturindikatoren, stagnierenden Investitionen und schwachen Exporten zeigt. Die EUWinterprognose sagt für Österreich ein Wachstum von nur 0,6 Prozent im Jahr 2024 voraus. (Nur in Deutschland sind die Aussichten schlechter.) Die Wirtschaft der EU soll in diesem Jahr insgesamt um mickrige 0,9 Prozent wachsen. Kurzfristige politische Maßnahmen zielen darauf ab, eine Gasmangellage zu vermeiden und Verbraucher zu entlasten.
Es sind daher dringend nachhaltige Lösungen erforderlich, da Preissubventionen falsche Anreize setzen und langfristig nicht finanzierbar sind. Nationale Subventionswettbewerbe verschwenden Steuergelder ohne positive Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit. Mittel- und langfristig muss daher ein nachhaltiges europäisches Energiesystem etabliert werden.
Die EU basiert auf vier Grundfreiheiten: freier Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr, freier Personenverkehr und freier Warenverkehr. Der Energieverkehr würde formal in die vierte Kategorie fallen. Jedoch sind die europäischen Energiemärkte noch nicht gut integriert. Eine tiefe Integration der Strommärkte und der Ausbau der Wasserstoffnetze, begleitet durch koordiniertes regulatorisches Vorgehen auf europäischer Ebene, sind entscheidend.
Ausbau erneuerbarer Energien
Die verstärkte Integration der EUStrommärkte bringt wirtschaftliche Vorteile durch gemeinsame Gestaltung und Betrieb mehrerer nationaler Elektrizitätssysteme. Diese
Vorteile werden mit einem höheren Anteil erneuerbarer Energieträger zunehmen, was zu geringerer Verbrennung fossiler Brennstoffe, weniger Preisschwankungen, Kosteneinsparungen und größerer Widerstandsfähigkeit führt. Diese Vorteile könnten einen jährlichen Nutzen von 43 Milliarden Euro bis 2030 bringen, und sie ermöglichen einen effizienteren Ausbau erneuerbarer Energien.
Mit der „REPowerEU“-Strategie plant die EU, den Anteil erneuerbarer Energien von 23 Prozent im Jahr 2022 auf 42,5 Prozent im Jahr 2030 zu erhöhen, mit dem Ziel, sogar 45 Prozent zu erreichen.
Ein Anteil von 42,5 Prozent erneuerbarer Energien am gesamten Energiesystem bedeutet, dass mehr als zwei Drittel des Stroms aus erneuerbaren Quellen erzeugt werden sollen. Eine tiefe Integration der Strommärkte bietet enorme Vorteile, da sie es ermöglicht, Gaskraftwerke in den Niederlanden durch die Nutzung von Windenergie in Polen zu ersetzen.
Dies senkt den Erdgasverbrauch und damit die Preise für Gas und Strom in der EU. Diese Synergien entstehen aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen von Wind-, Solarund Wasserkraftwerken sowie der Stromnachfrage in Europa. Eine Arbeitsteilung zwischen den Ländern ermöglicht zudem effizientere Stromerzeugung, da beispielsweise ein Solarmodul in Spanien doppelt so viel Strom erzeugen kann wie eines in Finnland.
Vorteile für Wettbewerb
Darüber hinaus bringt eine stärkere Integration der Energiemärkte auch Vorteile in Bezug auf Wettbewerb, Innovation und Glaubwürdigkeit im Elektrizitätssektor mit sich. Diese Vorteile sind schwerer quantifizierbar, spielen aber eine wichtige Rolle angesichts langer Investitionszeiten und hoher Konzentration auf rein nationalen Märkten.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Ausbau der Wasserstoffnetze, die vor allem in Bereichen eingesetzt werden, in denen eine direkte Elektrifizierung nicht möglich oder wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, wie in der Industrie. Die genauen Einsatzbereiche und Mengen sind noch offen, jedoch wird erwartet, dass der Bedarf signifikant steigen wird. Österreich benötigte im Jahr 2020 etwa 4,7 TWh Wasserstoff in der Industrie, während Prognosen des BMK für 2040 einen Bedarf von 67 bis 75 TWh vorhersagen, was die derzeitigen Produktionskapazitäten weit übersteigt.
Wasserstoffnetz regulieren
Der Import von Wasserstoff wird daher über Pipelines oder auf dem Seeweg erfolgen, wobei gasförmiger Wasserstoff kostengünstig transportiert werden kann, insbesondere wenn vorhandene Gastransportinfrastrukturen genutzt werden. Eine koordinierte europäische Strategie ist entscheidend, um die Vorteile dieses Imports optimal zu nutzen.
Erstens ist die Entwicklung eines möglichst europaweiten Wasserstoff-Backbone-Netzes erforderlich. Die Kosten für die Bereitstellung von grünem Wasserstoff hängen stark von Skaleneffekten ab. Je mehr Erdgas durch grünen Wasserstoff ersetzt wird, desto stärker werden die Produktionskosten sinken.
lmporte beschleunigen
Zweitens handelt es sich bei einem Wasserstoffnetz wahrscheinlich um ein natürliches Monopol, das staatlich reguliert werden sollte. Der Aufbau und der Betrieb könnten durch staatlich regulierte private Unternehmen oder öffentlich beteiligte Unternehmen erfolgen, wobei ein koordiniertes Vorgehen hier jedenfalls wichtig ist, um Skaleneffekte zu nutzen. Die USA haben mit dem Inflation Reduction Act (IRA) die Entwicklung ihrer Wasserstoffwirtschaft vorangetrieben, wobei eine schnellere Marktdurchdringung zu erwarten ist als bei komplexen Rahmenbedingungen. Europa muss daher die regulatorische Komplexität reduzieren und Importe sowie den Netzausbau beschleunigen.
Drittens wird grüner Wasserstoff vor allem in Regionen mit reichlich vorhandenen erneuerbaren Energiequellen produziert, wobei Nordafrika, Chile, Westasien, die arabische Halbinsel und China die niedrigsten Produktionskosten laut IEA-Prognosen haben. Angesichts politischer Instabilität in einigen dieser Länder sollte eine Diversifizierung der Bezugsquellen angestrebt werden, um die Resilienz der Produktion zu erhöhen.
Zügig handeln ist wichtig
Die Diversifizierung ist nicht nur bei Wasserstoff, sondern auch bei anderen kritischen Rohstoffen entscheidend. Durch den Aufbau und die Pflege von Wirtschaftsallianzen mit strategischen Partnern kann die Eigenständigkeit gestärkt werden. Es ist wichtig, kurz vor dem Abschluss stehende Handelsabkommen schnell zu ratifizieren und laufende Verhandlungen zügig abzuschließen. Handelsabkommen mit südamerikanischen Ländern können ebenfalls zur Förderung erneuerbarer Energien beitragen, da das Rohstoffpotenzial in dieser Region hoch eingeschätzt wird.
Die EU basiert auf vier Grundfreiheiten, aber es ist Zeit für eine fünfte: den freien Verkehr von Energie. Integrierte Märkte für saubere Energie beeinflussen nicht nur den Klimaschutz, sondern auch die zukünftige wirtschaftliche Erfolgsaussicht. Es ist wichtig, nationalstaatliches Denken zu überwinden und gesamteuropäisch zu handeln. Es wird ein steiniger Weg. Aber auch hier gilt: Protektionismus ist kurzsichtig.