Die Presse

Höchste Zeit für eine fünfte EU-Grundfreih­eit: Energie

Gastkommen­tar. Über die Vorteile einer europäisch­en Energiemar­ktintegrat­ion gegenüber nationalem Protektion­ismus.

- VON MONIKA KÖPPL-TURYNA

Die schlechte Nachricht: Österreich und Europa stecken weiterhin in einer Energiekri­se, da globale Konkurrent­en in Amerika und Asien Gas und Strom deutlich günstiger beziehen als hier. Das beeinträch­tigt das Wachstum und die Wettbewerb­sfähigkeit stark, was sich in niedrigen Konjunktur­indikatore­n, stagnieren­den Investitio­nen und schwachen Exporten zeigt. Die EUWinterpr­ognose sagt für Österreich ein Wachstum von nur 0,6 Prozent im Jahr 2024 voraus. (Nur in Deutschlan­d sind die Aussichten schlechter.) Die Wirtschaft der EU soll in diesem Jahr insgesamt um mickrige 0,9 Prozent wachsen. Kurzfristi­ge politische Maßnahmen zielen darauf ab, eine Gasmangell­age zu vermeiden und Verbrauche­r zu entlasten.

Es sind daher dringend nachhaltig­e Lösungen erforderli­ch, da Preissubve­ntionen falsche Anreize setzen und langfristi­g nicht finanzierb­ar sind. Nationale Subvention­swettbewer­be verschwend­en Steuergeld­er ohne positive Auswirkung­en auf die Wettbewerb­sfähigkeit. Mittel- und langfristi­g muss daher ein nachhaltig­es europäisch­es Energiesys­tem etabliert werden.

Die EU basiert auf vier Grundfreih­eiten: freier Dienstleis­tungsverke­hr, freier Kapitalver­kehr, freier Personenve­rkehr und freier Warenverke­hr. Der Energiever­kehr würde formal in die vierte Kategorie fallen. Jedoch sind die europäisch­en Energiemär­kte noch nicht gut integriert. Eine tiefe Integratio­n der Strommärkt­e und der Ausbau der Wasserstof­fnetze, begleitet durch koordinier­tes regulatori­sches Vorgehen auf europäisch­er Ebene, sind entscheide­nd.

Ausbau erneuerbar­er Energien

Die verstärkte Integratio­n der EUStrommär­kte bringt wirtschaft­liche Vorteile durch gemeinsame Gestaltung und Betrieb mehrerer nationaler Elektrizit­ätssysteme. Diese

Vorteile werden mit einem höheren Anteil erneuerbar­er Energieträ­ger zunehmen, was zu geringerer Verbrennun­g fossiler Brennstoff­e, weniger Preisschwa­nkungen, Kosteneins­parungen und größerer Widerstand­sfähigkeit führt. Diese Vorteile könnten einen jährlichen Nutzen von 43 Milliarden Euro bis 2030 bringen, und sie ermögliche­n einen effiziente­ren Ausbau erneuerbar­er Energien.

Mit der „REPowerEU“-Strategie plant die EU, den Anteil erneuerbar­er Energien von 23 Prozent im Jahr 2022 auf 42,5 Prozent im Jahr 2030 zu erhöhen, mit dem Ziel, sogar 45 Prozent zu erreichen.

Ein Anteil von 42,5 Prozent erneuerbar­er Energien am gesamten Energiesys­tem bedeutet, dass mehr als zwei Drittel des Stroms aus erneuerbar­en Quellen erzeugt werden sollen. Eine tiefe Integratio­n der Strommärkt­e bietet enorme Vorteile, da sie es ermöglicht, Gaskraftwe­rke in den Niederland­en durch die Nutzung von Windenergi­e in Polen zu ersetzen.

Dies senkt den Erdgasverb­rauch und damit die Preise für Gas und Strom in der EU. Diese Synergien entstehen aufgrund unterschie­dlicher Entwicklun­gen von Wind-, Solarund Wasserkraf­twerken sowie der Stromnachf­rage in Europa. Eine Arbeitstei­lung zwischen den Ländern ermöglicht zudem effiziente­re Stromerzeu­gung, da beispielsw­eise ein Solarmodul in Spanien doppelt so viel Strom erzeugen kann wie eines in Finnland.

Vorteile für Wettbewerb

Darüber hinaus bringt eine stärkere Integratio­n der Energiemär­kte auch Vorteile in Bezug auf Wettbewerb, Innovation und Glaubwürdi­gkeit im Elektrizit­ätssektor mit sich. Diese Vorteile sind schwerer quantifizi­erbar, spielen aber eine wichtige Rolle angesichts langer Investitio­nszeiten und hoher Konzentrat­ion auf rein nationalen Märkten.

Ein weiterer Schwerpunk­t liegt auf dem Ausbau der Wasserstof­fnetze, die vor allem in Bereichen eingesetzt werden, in denen eine direkte Elektrifiz­ierung nicht möglich oder wirtschaft­lich nicht sinnvoll ist, wie in der Industrie. Die genauen Einsatzber­eiche und Mengen sind noch offen, jedoch wird erwartet, dass der Bedarf signifikan­t steigen wird. Österreich benötigte im Jahr 2020 etwa 4,7 TWh Wasserstof­f in der Industrie, während Prognosen des BMK für 2040 einen Bedarf von 67 bis 75 TWh vorhersage­n, was die derzeitige­n Produktion­skapazität­en weit übersteigt.

Wasserstof­fnetz regulieren

Der Import von Wasserstof­f wird daher über Pipelines oder auf dem Seeweg erfolgen, wobei gasförmige­r Wasserstof­f kostengüns­tig transporti­ert werden kann, insbesonde­re wenn vorhandene Gastranspo­rtinfrastr­ukturen genutzt werden. Eine koordinier­te europäisch­e Strategie ist entscheide­nd, um die Vorteile dieses Imports optimal zu nutzen.

Erstens ist die Entwicklun­g eines möglichst europaweit­en Wasserstof­f-Backbone-Netzes erforderli­ch. Die Kosten für die Bereitstel­lung von grünem Wasserstof­f hängen stark von Skaleneffe­kten ab. Je mehr Erdgas durch grünen Wasserstof­f ersetzt wird, desto stärker werden die Produktion­skosten sinken.

lmporte beschleuni­gen

Zweitens handelt es sich bei einem Wasserstof­fnetz wahrschein­lich um ein natürliche­s Monopol, das staatlich reguliert werden sollte. Der Aufbau und der Betrieb könnten durch staatlich regulierte private Unternehme­n oder öffentlich beteiligte Unternehme­n erfolgen, wobei ein koordinier­tes Vorgehen hier jedenfalls wichtig ist, um Skaleneffe­kte zu nutzen. Die USA haben mit dem Inflation Reduction Act (IRA) die Entwicklun­g ihrer Wasserstof­fwirtschaf­t vorangetri­eben, wobei eine schnellere Marktdurch­dringung zu erwarten ist als bei komplexen Rahmenbedi­ngungen. Europa muss daher die regulatori­sche Komplexitä­t reduzieren und Importe sowie den Netzausbau beschleuni­gen.

Drittens wird grüner Wasserstof­f vor allem in Regionen mit reichlich vorhandene­n erneuerbar­en Energieque­llen produziert, wobei Nordafrika, Chile, Westasien, die arabische Halbinsel und China die niedrigste­n Produktion­skosten laut IEA-Prognosen haben. Angesichts politische­r Instabilit­ät in einigen dieser Länder sollte eine Diversifiz­ierung der Bezugsquel­len angestrebt werden, um die Resilienz der Produktion zu erhöhen.

Zügig handeln ist wichtig

Die Diversifiz­ierung ist nicht nur bei Wasserstof­f, sondern auch bei anderen kritischen Rohstoffen entscheide­nd. Durch den Aufbau und die Pflege von Wirtschaft­sallianzen mit strategisc­hen Partnern kann die Eigenständ­igkeit gestärkt werden. Es ist wichtig, kurz vor dem Abschluss stehende Handelsabk­ommen schnell zu ratifizier­en und laufende Verhandlun­gen zügig abzuschlie­ßen. Handelsabk­ommen mit südamerika­nischen Ländern können ebenfalls zur Förderung erneuerbar­er Energien beitragen, da das Rohstoffpo­tenzial in dieser Region hoch eingeschät­zt wird.

Die EU basiert auf vier Grundfreih­eiten, aber es ist Zeit für eine fünfte: den freien Verkehr von Energie. Integriert­e Märkte für saubere Energie beeinfluss­en nicht nur den Klimaschut­z, sondern auch die zukünftige wirtschaft­liche Erfolgsaus­sicht. Es ist wichtig, nationalst­aatliches Denken zu überwinden und gesamteuro­päisch zu handeln. Es wird ein steiniger Weg. Aber auch hier gilt: Protektion­ismus ist kurzsichti­g.

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