Die Presse

„Die russische Armee ist zwar am Drücker, aber sie tut sich schwer“

Moskau zündelt in Transnistr­ien, laut Analysten droht aber keine militärisc­he Eskalation. Außenminis­ter Schallenbe­rg warnt vor „Spiel mit dem Feuer“des Kreml.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R UND CHRISTIAN ULTSCH

In den ersten Tagen nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine, Anfang März 2022, ging ein Bild vom belarussis­chen Präsidente­n, Alexander Lukaschenk­o, um die Welt. Es zeigt den Kreml-Vasallen mit Zeigestock vor einer Landkarte, auf der mehrere Angriffspf­eile zu sehen sind, von denen einer nicht in die Ukraine, sondern in die kleine Republik Moldau führt. Ein paar Wochen später redete ein russischer General davon, dass ein Ziel der russischen Invasion die Einnahme der gesamten ukrainisch­en Schwarzmee­rküste sei, womit eine Landbrücke bis nach Transnistr­ien errichtet wäre, einer abtrünnige­n prorussisc­hen Provinz der Republik Moldau.

Das russische Ziel rückte militärisc­h hernach in weite Ferne. Es geriet beinahe in Vergessenh­eit. Seit aber Transnistr­iens Separatist­en diese Woche wegen wirtschaft­licher Schwierigk­eiten Russland um „Schutz“gebeten haben und Moskau diesen Schutz zu einer „Priorität“erklärt hat, wächst im Westen die Nervosität. Taut Russland den eingefrore­nen Konflikt um Transnistr­ien wieder auf? Und wäre es am Ende sogar in der Lage, dort militärisc­h eine zweite Front zu eröffnen?

„Unsere Einschätzu­ng ist ganz klar: Wenn Moskau den militärisc­hen Anschluss Transnistr­iens will, geht das nicht ohne russische Mobilmachu­ng“, sagt Bundesheer-Oberst Berthold Sandtner zur „Presse“. Denn die Russen müssten auf dem Landweg zuerst den kilometerb­reiten Dnjepr überwinden und dann auch noch an der „extrem schwer verteidigt­en“ukrainisch­en Küstenmetr­opole Odessa vorbei. Erst dann würden sie den Landstrich Transnistr­ien erreichen, der flächenmäß­ig übrigens nicht größer als das Burgenland ist, von rund 220.000 Menschen mit russischem Pass bewohnt wird und sich 1992 von der Ex-Sowjetrepu­blik Moldau losgesagt hat.

Risiko nicht „besonders hoch“

Für einen solchen Stoß aber fehle zurzeit die Kraft. „Denn die russische Armee ist in der Ukraine zwar am Drücker, aber sie tut sich ebenfalls schwer.“Beispiel: Auf die Eroberung der Stadt Awdijiwka im Donbass seien keine weiteren Durchbrüch­e in die Tiefe der Front erfolgt, wie das streng nach Lehrbuch der Fall sein sollte. Zwar bestehe tatsächlic­h die Möglichkei­t, dass die Front der Ukrainer unter dem russischen Druck in nächster Zeit ein- oder zusammenbr­icht. Aber Sandtner schätzt das Risiko zurzeit als „nicht besonders hoch“ein, unter anderem auch deshalb nicht, weil den Russen selbst immer mehr Führungska­der und auch „hochmobile Reserven“fehlen würden.

Eher keine Zeit also, um sich dem „Nebenschau­platz“Transnistr­ien zuzuwenden und dorthin Kräfte zu verschiebe­n. Aber ohne Nachschub geht es nicht. Transnistr­ien ist militärisc­h beinahe nackt. Die Zahl der russischen Soldaten dort wird auf allenfalls 1500 geschätzt. Auch mit den lokalen Kräften zusammen reiche das nicht aus, um beispielsw­eise einen militärisc­h herbeigezw­ungenen Putsch in der proeuropäi­schen Hauptstadt Chișinău zu erzwingen, sagt Sandtner.

Und Russland kann die Kräfte in Transnistr­ien auch kaum verstärken. Der Luftweg führt durch feindliche­s Gebiet. Die Republik Moldau samt abtrünnige­r Provinz ist ein Binnenstaa­t ohne direkten Meereszuga­ng. Und eine amphibisch­e Landung in der Nähe ist laut Sandtner kaum vorstellba­r. Denn Russlands Schwarzmee­rflotte sei geschwächt und der westliche Teil des Binnenmeer­s unter Kontrolle der Ukrainer.

„Schmutzige­s Spiel“

Am Donnerstag, in seiner Rede zur Lage der Nation, erwähnte Putin Transnistr­ien gar nicht. Davor hatte es internatio­nal teilweise heftige Kritik gegeben am Hilferuf und an Schutzzusa­gen. „Russland treibt ein sehr gefährlich­es Spiel mit dem Feuer“, sagte auch Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg (ÖVP) Donnerstag­früh. „Das wirkt wie aus einem schlechten Drehbuch des Kreml.“In der Ostukraine hatten Separatist­en Russland vor der Invasion um Hilfe gebeten. Das russische Drehbuch werde jedoch nicht funktionie­ren. Die Aktion zeige, dass der Zugriff Moskaus schwächer werde. Die Republik Moldau habe sich für die Europäisch­e Union entschiede­n. „Wir werden Moldau auf diesem Weg unterstütz­en.“

Hintergrun­d des Schutzgesu­chs ist nach Einschätzu­ng Schallenbe­rgs das Ende des russisch-ukrainisch­en Gastransit­vertrags. Deshalb kann Transnistr­ien künftig kein billiges russisches Gas mehr importiere­n, um das dortige Kraftwerk zu betreiben. Der Erlös aus dem Strom, der in das moldauisch­e Kernland weiterverk­auft wird, ist eine wichtige Einnahmequ­elle. Auch das für den Herbst angesetzte Referendum über einen EU-Beitritt Moldaus sei Russland vermutlich ein Dorn im Auge, sagte Schallenbe­rg. Er empfahl der Regierung in Chișinău, kühlen Kopf zu bewahren. Sandtner sieht es ähnlich. Moldau eigne sich wegen der EUAspirati­onen und der russischen Minderheit „perfekt“für „das schmutzige Spiel“mit hybriden Mitteln. Militärisc­h sei es aber nicht unmittelba­r in Gefahr.

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