Libanon steht am Rand des Abgrunds
Bei Waffenruhe in Gaza könnten auch Waffen im Südlibanon schweigen. Ein unlimitierter Krieg Israels gegen die Hisbollah wäre fatal fürs Land.
Seit dem Hamas-Terror des 7. Oktober ist auch im Südlibanon alles anders. Oberstleutnant Peter Ertl hört jeden Tag Gefechtslärm. „Das ist unsere neue Normalität. Unser Leben ist komplett auf den Kopf gestellt“, sagt der Kommandant des österreichischen Kontingents bei den Blauhelmen der Unifil. Täglich fliegen Raketen zwischen der israelischen Armee und der libanesischen Hisbollah-Miliz hin und her. Zuletzt wieder intensiver. Wie damals im November unmittelbar vor der Vereinbarung der ersten Waffenruhe im Gazastreifen.
Ertls Hoffnung: Wenn in Gaza die Waffen schweigen, kehrt wie für sieben Tage im November auch im Südlibanon endlich wieder Ruhe ein. So hat es Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah angekündigt. Die Konflikte hängen zusammen: Die von dem Iran unterstützten schiitischen Milizen leisten Schützenhilfe für die palästinensische Hamas. Bisher haben sie ebenso wie Israel vermieden, dass der Krieg mit voller Wucht auf den Libanon übergreift.
Erinnerung an den Krieg von 2006
Der dänische Sicherheitsexperte Rasmus Jacobsen von der Beratungsfirma Atlas Assistance hat mitgezählt. Seit Oktober hat die Hisbollah rund 1000 und Israel etwa 3500 Geschosse abgefeuert. 98 Prozent der Angriffe hätten sich jedoch auf ein Gebiet innerhalb eines Radius von zehn Kilometern rund um die Grenze beschränkt. Der Grund für die Zurückhaltung? Bei der Hisbollah ist die Erinnerung an den letzten Krieg 2006 noch wach. Und in Israel steigt zwar die Unruhe unter den 80.000 Bürgern, die wegen der Schusswechsel aus dem Grenzgebiet zum Libanon in andere Landesteile gebracht worden sind. Doch für den jüdischen Staat wäre es gefährlich, die zweite Front vollständig aufzumachen. Die vom Iran hochgerüstete Miliz hat Schätzungen zufolge mehr als 100.000 Raketen in ihren Arsenalen, darunter auch Präzisionswaffen. Ihre Streitmacht wäre für Israel eine weitaus größere militärische Herausforderung als die Hamas.
Oberstleutnant Ertl ist überzeugt: Wenn die rund 10.000 Soldaten und Soldatinnen
der Unifil nicht präsent wären, wäre der Konflikt schon eskaliert. Die Blauhelme sind jedoch nur Zuschauer. In der UN-Resolution 1701, die den Libanon-Krieg 2006 beendet hat, ist vorgesehen, dass sich die Hisbollah mindestens 30 Kilometer von der israelischen Grenze hinter den Litani-Fluss zurückziehe. Doch davon kann keine Rede sein. Die Miliz macht, was sie will. Und die Unifil beobachtet und berichtet lediglich.
Der Libanon bewegt sich seit Jahren rasant in Richtung eines gescheiterten Staats – politisch und wirtschaftlich. Seit der Wahl 2022 hat das Parlament keine beschlussfähi
ge Mehrheit und ist nicht fähig, einen Staatspräsidenten zu wählen. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit der schweren Finanzkrise 2019 um 60 Prozent eingebrochen. Fast jeder Dritte hat keinen Job. Die Hälfte der Bevölkerung ist unter die Armutsgrenze gefallen. Libanesen brauchten inzwischen genau so viel Hilfe wie die rund 1,6 Millionen syrischer Flüchtlinge im Land. Doch der Staat ist heillos verschuldet, die Währung weich wie Pudding.
Volle Restaurants, bettelnde Kinder
Der seit fast drei Jahren amtierende Übergangspremier Najib Mikati, ein Telekom-Milliardär und „Oligarch“mit guten Kontakten zum Assad-Regime in Damaskus, habe bis jetzt keinen Plan vorgelegt, um die insolventen Banken abzuwickeln, sagt Rasmus Jacobsen. Stattdessen sei ein äußerst dubioses Finanzkarussell über die Zentralbank aufgezogen worden, das zu weiteren Verlusten führe. So könne es nicht weitergehen.
Krise? Welche Krise? Die Restaurants im luxuriösen Jachthafen in Zaybatunia sind voll. Und mittendrin betteln Kinder: „One Dollar, one Dollar!“Libanon ist ein Land der sozialen und religiösen Gegensätze, des lähmenden Proporzes, ein Bürgerkriegsland (1975–1990) der Dramen, der Attentate und Katastrophen, doch immer auch ein Land der Lebenskünstler. Nach jeder Katastrophe hat sich die ehemalige Schweiz des Nahen Ostens aufgerichtet. Nach der gigantischen Hafenexplosion in Beirut vor drei Jahren sind die meisten Häuser in der Umgebung wieder renoviert. Es sind die Menschen, die das Land in Privatinitiativen immer wieder über Wasser halten, nicht der Staat.
Hisbollah ist ein Staat im Staat
Das durchschnittliche Gehalt eines libanesischen Soldaten ist von umgerechnet 800 auf 100 Dollar geschmolzen. Viele haben deshalb nun Nebenjobs – als Taxifahrer oder Trainer in Fitnesscentern. Zwei fremde Staaten, die USA und Katar, haben Programme gestartet, um das Einkommen der libanesischen Soldaten aufzufetten. Ministerien ersuchen inzwischen andere Staaten, ob sie die finanzielle Patenschaft für die Anschaffung von Laptops und anderen Geräten übernehmen.
Und in diesem gescheiterten Staat bildet die Hisbollah, die in Mikatis Regierung mit zwei Ministern vertreten ist, einen eigenen Staat mit einer eigenen Armee. Bei einer Pressekonferenz mit seinem österreichischen Amtskollegen Alexander Schallenberg in Beirut will Libanons betagter Außenminister Abdullah Bou Habib nicht einmal den Hauch einer Kritik an der Hisbollah aufkommen lassen. Deren Widerstand sei legitim, solang Israel libanesisches Gebiet besetze, sagt er. Umstritten sind vor allem ein Dorf und die Schebaa-Farmen, gerade einmal 14 ehemalige Bauernhöfe auf den von Israel besetzten Golan-Höhen.
„Region steht bereits in Flammen“
Doch es gibt keine völkerrechtlich fixierte Grenze, nur eine Konfrontationslinie, die sogenannte Blue Line. Bou Habib hofft, dass die Territorialfragen nach einem Waffenstillstand geklärt werden können – nach dem Vorbild des Abkommens über die Seegrenze, das Israel und der Libanon nach Gasfunden vor der Küste indirekt nach Vermittlung durch die USA und Frankreich geschlossen haben. Der damalige US-Sonderbeauftragte Amos Hochstein war zuletzt wieder in Beirut.
Schallenberg, der im Libanon außer Premier Mikati auch den Armeechef und den spanischen Unifil-Oberkommandanten traf, ruft in Beirut alle Konfliktparteien des Nahen Ostens zu maximaler Zurückhaltung auf. „Die Region steht bereits in Flammen. Doch manche Akteure spielen mit dem Feuer und glauben, sich dabei nicht die Finger zu verbrennen.“
Peter Ertl, Kommandant des österreichischen Unfil-Kontingents, ist sich der Gefahr seines Einsatzes bewusst. Dem ehemaligen Kickboxer aus der Steiermark ist klar, dass es jederzeit zu Kollateralschäden kommen kann, wenn Teile abgeschossener Raketen vom Himmel fallen. Seine Leute rücken nur noch mit Helm und Schutzweste aus, sind die meiste Zeit kaserniert, unterbrochen von kurzen Heimaturlauben. Ertl selbst will über Ostern in Österreich bei seiner Frau und seinen zwei Buben sein. Wenn alles gut geht.