„Frontex nicht in der Lage, Grundrechte einzuhalten“
Eine Aufarbeitung des Schiffsunglücks vor Pylos mit über 600 Toten offenbart die Defizite des EU-Grenzschutzes.
Brüssel/Wien. Um exakt 8.01 Uhr am 13. Juni des vergangenen Jahrs informierte die italienische Küstenwache die griechischen Kollegen sowie die EU-Grenzschutzagentur Frontex über Hinweise auf ein Fischerboot mit bis zu 750 Menschen an Bord, das von der libyschen Stadt Tobruk aus in See gestochen war. 20 Stunden später galt der Kutter – die zu trauriger Berühmtheit gelangte Adriana – offiziell als gesunken.
Was in den Stunden dazwischen geschah und warum nur 104 Menschen bei dem Unglück vor der griechischen Insel Pylos im Ionischen Meer gerettet werden konnten, war Gegenstand einer detaillierten Untersuchung der EU-Ombudsstelle, die zu einem eindeutigen Schluss kommt: Frontex ist nicht in der Lage, die Einhaltung von Menschenrechten sicherzustellen, weil die Grenzschutzagentur bei ihrer Arbeit zu sehr von den Mitgliedstaaten abhängig ist. Mehr noch: Das Mandat der EU-Agentur rechtfertige den Begriff „Küstenwache“nicht. „Laut Dokumenten, die während der Untersuchung eingesehen wurden, hat Frontex den griechischen Behörden vier verschiedene Angebote zur Unterstützung bei der Luftüberwachung der Adriana gemacht, aber keine Antwort erhalten“, so steht es im Bericht . „Nach derzeitigen Regeln war es Frontex nicht gestattet, sich ohne Erlaubnis der griechischen Behörden zu den entscheidenden Zeitpunkten an den Standort der Adriana zu begeben“–
weshalb es bei der Katastrophe nur insgesamt zwei Frontex-Einsätze gab: Um 09:47 – also zwei Stunden nach der Alarmierung durch Italien – überwachte das Flugzeug Eagle 1 das Boot zehn Minuten lang, ehe es zum Tanken umkehren musste. Erst Stunden später, als die Adriana bereits gesunken war, kehrte eine Frontex-Drohne an den Unglücksort zurück.
Versagen der Behörden
Für Ombudsfrau Emily O’Reilly ein Versagen der Behörden auf ganzer Linie – und der Beweis für die Diskrepanz „zwischen den Grundrechtsverpflichtungen von Frontex und der Pflicht, die Grenzkontrollen der Mitgliedstaaten zu schützen“. Denn es gibt noch eine zweite Seite des Problems – und diese hat weniger mit dem Mandat der Agentur als ihrer grundsätzlichen Ausrichtung zu tun: In der Vergangenheit stand Frontex im Zentrum von Untersuchungen zu rechtswidrigen Pushbacks im Mittelmeer. Beamte der EU-Agentur hatten das Zurückdrängen von Migranten von griechischen in türkische Gewässer nicht verhindert; eine Dokumentation
der Vorfälle wurde von der damaligen Frontex-Führung unter dem Franzosen Fabrice Leggeri verschleiert. Detail am Rande: Leggeri tritt bei der Europawahl im Juni für die Le-Pen-Partei Rassemblement National (RN) an.
1,1 Mio. Asylanträge
Sein Einzug in das Europaparlament gilt als sicher – wird doch dem RN wie anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa in sämtlichen Umfragen ein sattes Plus vorhergesagt. Das liegt auch an dem überaus präsenten Thema Migration: Im vergangenen Jahr registrierte die Asylagentur der Europäischen Union 1,14 Millionen Anträge in der EU sowie in Norwegen und der Schweiz – ein Plus von 18 Prozent im Vergleich zu 2022 und die höchste Zahl seit der großen Flüchtlingskrise 2015/16. Die meisten Antragssteller kamen nach Angaben der Asylagentur abermals aus dem Bürgerkriegsland Syrien, gefolgt von Afghanistan. Gegen Ende des Jahres, nach Beginn des neuen Gaza-Kriegs im Oktober, wollten zunehmend auch Palästinenser nach Europa.