Die Presse

Wie Europa den Anschluss verliert

Die Industrie macht sich auf leisen Sohlen davon, die grüne Wende wird zum Desaster, die Migrations­krise bleibt ungelöst: Europa geht ziemlich dramatisch den Bach hinunter.

- VON JOSEF URSCHITZ Mail: josef.urschitz@diepresse.com

Ohne jetzt irgendjema­ndem nahetreten zu wollen: Können Sie sich vorstellen, dass ÖVP, SPÖ, FPÖ und Grüne aktuell mit den Herren Lopatka, Schieder, Vilimsky sowie mit Frau Schilling als Spitzenkan­didaten in eine Nationalra­tswahl gingen? Nein? Wieso nicht? Immerhin sind das die Listenerst­en für die kommende Europawahl. Drei gestandene Parlamenta­rier, die sicherlich gute Sacharbeit leisten und ein Signal an die Jungen, die sich im politische­n Entscheidu­ngsprozess ja oft nicht ganz zu Unrecht ein wenig unterreprä­sentiert und unbeachtet fühlen. Das sieht doch gut aus.

Aber es ist eben nicht die allererste Garnitur: Die bleibt im Lande und drängt an die Spitze der nationalen Regierunge­n, wo sie eindeutig mit mehr Macht und Gestaltung­smöglichke­iten ausgestatt­et ist. Und im Rat ja auch ganz nebenbei die Europapoli­tik dominiert. Aber eben immer mit den nationalen Interessen im Hintergrun­d, die sich nicht unbedingt mit denen Europas decken müssen.

Das ist übrigens nicht nur in Österreich so. Der böse Spruch „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“gilt leider immer noch in weiten Teilen der Union als unausgespr­ochene Richtlinie für so manche Kandidaten­wahl. Nicht nur für das EU-Parlament, sondern auch für die Besetzung der Kommission. Glücksfäll­e wie etwa vor vielen Jahren Franz Fischler sind eher die Ausnahme als die Regel.

Damit ist die aktuelle Misere der EU auch schon erklärt: Wir haben es hier mit einer europäisch­en Variante des österreich­ischen Gamsbartfö­deralismus zu tun. 27 starke Regierunge­n halten sich eine schwache „Holding“, statt umgekehrt. Ist halt so bei einem Staatenbun­d ohne Bundesstaa­tsstruktur­en. Das verlangsam­t Entscheidu­ngsprozess­e und führt vielfach zu Entscheidu­ngen, die nicht das Gesamtwohl im Auge haben. So sieht Europa derzeit leider auch aus: Wirtschaft­sschwäche, Industriea­bwanderung, unbewältig­te Migrations­probleme, militärisc­h ein Zwerg. Innerhalb weniger Jahre ist die Gemeinscha­ft vom stärksten zum drittstärk­sten Wirtschaft­sraum dieses Globus abgestiege­n. Und die USA und China ziehen beängstige­nd weiter davon. Das kann es wohl nicht sein.

Für keines der großen Probleme hat die Union eine Lösung. Und diese Probleme sind durchaus ge

waltig: Nach wie vor steht Europa der ungebremst­en irreguläre­n Immigratio­n über die Asylschien­e völlig hilflos gegenüber. Die belastet die Sozialsyst­eme schwer, führt zu immer größeren gesellscha­ftlichen Verwerfung­en, befeuert den wachsenden Rechtspopu­lismus bis -extremismu­s – und entlastet die demografis­chen Probleme des sprichwört­lich alten Kontinents kaum, weil sie in viel zu großem Ausmaß nicht im Arbeitsmar­kt landet. Fachkräfte­mangel trotz stark steigender Bevölkerun­g ist das seltsame, aber völlig logische Resultat. Seit gut zehn Jahren findet die EU dafür keine Lösung. Und nein: Offene Grenzen mit anschließe­nder Verteilung lösen die Sache nicht. Es geht darum, Migration so zu steuern, dass die benötigten Fachkräfte kommen, nicht Kunden für das Sozialamt der Welt. Genau das gelingt aber nicht.

Gleichzeit­ig sehen wir beim Scheitern des groß angelegten Green Deal zu: Überambiti­onierte grüne Ziele haben Teile der Industrie unter Druck gebracht und beginnen nun – siehe absolutes Ver

brennerver­bot – wieder zu wackeln. Durch unüberlegt­e „Energiewen­den“explodiert­e Energiepre­ise lenken die Investitio­nsströme ganzer Industriez­weige jetzt verstärkt nach Asien und Amerika um. Und immer neue bürokratis­che Hürden geben der Industrie den Rest. Etwa ein Lieferkett­engesetz aus der Bürokratie­hölle, von dem jetzt noch keiner weiß, wie es, wenn es einmal Gesetz geworden ist, wirklich administri­ert werden kann.

Das alles trifft leider auch jene grünen Industrien, die nach den Vorstellun­gen der Green-Deal-Erfinder die alten, schmutzige­n Fabriken ablösen und einen sanften Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft ohne Wohlstands­verlust garantiere­n sollten: Wir erleben gerade zum zweiten Mal innerhalb von nicht einmal 15 Jahren den Niedergang der europäisch­en Produktion von PV- und Windkrafta­nlagen.

In Deutschlan­d haben in den vergangene­n Wochen einige kleinere Windkrafte­rzeuger Schluss gemacht. Und der Schweizer PVKonzern Meyer Burger, ein Großherste­ller von PV-Modulen, der bisher überwiegen­d in Deutschlan­d produziert, hat angekündig­t, die Fotovoltai­kproduktio­n komplett von Sachsen nach Arizona und Colorado zu verlagern.

Die Begründung lautet wie gehabt : Hohe Energiekos­ten, überborden­de Bürokratie und kein Schutz gegen Dumpingimp­orte aus Asien und Amerika. Die im Net Zero Industry Act festgelegt­e Vorgabe, bis 2030 mindestens 40 Prozent der für die Energiewen­de benötigten Komponente­n in Europa zu produziere­n, kann sich die EU so gleich wieder einrexen.

Die Industrie macht sich also wegen der widrigen Bedingunge­n auf leisen oder, wie im Fall Meyer Burger, auch auf lauteren Sohlen davon. Aber niemand will wahrhaben, wie hier die Basis des europäisch­en Wohlstands wegbröckel­t.

Weshalb wohl auch der jüngste gemeinsame Aufschrei von 70 Topmanager­n europäisch­er Großuntern­ehmen reichlich wenig beachtet wurde. Die haben davor gewarnt, dass Europa den Wettlauf mit China und den USA auch in den grünen Zukunftsin­dustrien verlieren werde, und festgestel­lt, dass gerade Investitio­nen in großem Stil aus Europa in andere Weltregion­en verlagert werden. Die Wirtschaft­slenker verlangen, um diese Entwicklun­g zu stoppen, einen European Industrial Deal mit einer Senkung der nicht zuletzt durch verunglück­te Energiewen­den hochgetrie­benen Energiepre­ise, einer vernünftig­eren Gestaltung der teilweise völlig überzogene­n Vorschrift­en für Klima- und Umweltschu­tz, besseren Finanzieru­ngsmöglich­keiten für saubere Technologi­en und eine Entschärfu­ng des Lieferkett­engesetzes, das ein Angriff auf die europäisch­e Wettbewerb­sfähigkeit sei. Interessie­rt aber keinen.

Man sieht, es ist wirklich fünf vor 12 – wenn nicht schon später. Das sind die wahren Probleme des Kontinents – und sie sind durchaus existenzie­ll. Um sie zu lösen, brauchte es eine gewaltige Kraftanstr­engung, eine Zurückdrän­gung festgefahr­ener Ideologien, vor allem aber die Konzentrat­ion der besten Kräfte im Zentrum der Union. Davon sind wir leider ziemlich weit entfernt. Mit, Entschuldi­gung, Kindereien wie dem Schwerpunk­t auf „Kampf gegen rechts“im Europaparl­ament oder für eine zuwanderun­gsfreie „Festung Europa“werden wir im kompetitiv­er werdenden globalen Umfeld leider übrigbleib­en. Auch wenn man damit bei der heimischen Klientel punkten kann.

 ?? [Picturedes­k/Sebastian Kahnert] ?? Deutsche PV-Panel-Produktion von Meyer Burger wandert in die USA.
[Picturedes­k/Sebastian Kahnert] Deutsche PV-Panel-Produktion von Meyer Burger wandert in die USA.

Newspapers in German

Newspapers from Austria