Wie Europa den Anschluss verliert
Die Industrie macht sich auf leisen Sohlen davon, die grüne Wende wird zum Desaster, die Migrationskrise bleibt ungelöst: Europa geht ziemlich dramatisch den Bach hinunter.
Ohne jetzt irgendjemandem nahetreten zu wollen: Können Sie sich vorstellen, dass ÖVP, SPÖ, FPÖ und Grüne aktuell mit den Herren Lopatka, Schieder, Vilimsky sowie mit Frau Schilling als Spitzenkandidaten in eine Nationalratswahl gingen? Nein? Wieso nicht? Immerhin sind das die Listenersten für die kommende Europawahl. Drei gestandene Parlamentarier, die sicherlich gute Sacharbeit leisten und ein Signal an die Jungen, die sich im politischen Entscheidungsprozess ja oft nicht ganz zu Unrecht ein wenig unterrepräsentiert und unbeachtet fühlen. Das sieht doch gut aus.
Aber es ist eben nicht die allererste Garnitur: Die bleibt im Lande und drängt an die Spitze der nationalen Regierungen, wo sie eindeutig mit mehr Macht und Gestaltungsmöglichkeiten ausgestattet ist. Und im Rat ja auch ganz nebenbei die Europapolitik dominiert. Aber eben immer mit den nationalen Interessen im Hintergrund, die sich nicht unbedingt mit denen Europas decken müssen.
Das ist übrigens nicht nur in Österreich so. Der böse Spruch „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“gilt leider immer noch in weiten Teilen der Union als unausgesprochene Richtlinie für so manche Kandidatenwahl. Nicht nur für das EU-Parlament, sondern auch für die Besetzung der Kommission. Glücksfälle wie etwa vor vielen Jahren Franz Fischler sind eher die Ausnahme als die Regel.
Damit ist die aktuelle Misere der EU auch schon erklärt: Wir haben es hier mit einer europäischen Variante des österreichischen Gamsbartföderalismus zu tun. 27 starke Regierungen halten sich eine schwache „Holding“, statt umgekehrt. Ist halt so bei einem Staatenbund ohne Bundesstaatsstrukturen. Das verlangsamt Entscheidungsprozesse und führt vielfach zu Entscheidungen, die nicht das Gesamtwohl im Auge haben. So sieht Europa derzeit leider auch aus: Wirtschaftsschwäche, Industrieabwanderung, unbewältigte Migrationsprobleme, militärisch ein Zwerg. Innerhalb weniger Jahre ist die Gemeinschaft vom stärksten zum drittstärksten Wirtschaftsraum dieses Globus abgestiegen. Und die USA und China ziehen beängstigend weiter davon. Das kann es wohl nicht sein.
Für keines der großen Probleme hat die Union eine Lösung. Und diese Probleme sind durchaus ge
waltig: Nach wie vor steht Europa der ungebremsten irregulären Immigration über die Asylschiene völlig hilflos gegenüber. Die belastet die Sozialsysteme schwer, führt zu immer größeren gesellschaftlichen Verwerfungen, befeuert den wachsenden Rechtspopulismus bis -extremismus – und entlastet die demografischen Probleme des sprichwörtlich alten Kontinents kaum, weil sie in viel zu großem Ausmaß nicht im Arbeitsmarkt landet. Fachkräftemangel trotz stark steigender Bevölkerung ist das seltsame, aber völlig logische Resultat. Seit gut zehn Jahren findet die EU dafür keine Lösung. Und nein: Offene Grenzen mit anschließender Verteilung lösen die Sache nicht. Es geht darum, Migration so zu steuern, dass die benötigten Fachkräfte kommen, nicht Kunden für das Sozialamt der Welt. Genau das gelingt aber nicht.
Gleichzeitig sehen wir beim Scheitern des groß angelegten Green Deal zu: Überambitionierte grüne Ziele haben Teile der Industrie unter Druck gebracht und beginnen nun – siehe absolutes Ver
brennerverbot – wieder zu wackeln. Durch unüberlegte „Energiewenden“explodierte Energiepreise lenken die Investitionsströme ganzer Industriezweige jetzt verstärkt nach Asien und Amerika um. Und immer neue bürokratische Hürden geben der Industrie den Rest. Etwa ein Lieferkettengesetz aus der Bürokratiehölle, von dem jetzt noch keiner weiß, wie es, wenn es einmal Gesetz geworden ist, wirklich administriert werden kann.
Das alles trifft leider auch jene grünen Industrien, die nach den Vorstellungen der Green-Deal-Erfinder die alten, schmutzigen Fabriken ablösen und einen sanften Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft ohne Wohlstandsverlust garantieren sollten: Wir erleben gerade zum zweiten Mal innerhalb von nicht einmal 15 Jahren den Niedergang der europäischen Produktion von PV- und Windkraftanlagen.
In Deutschland haben in den vergangenen Wochen einige kleinere Windkrafterzeuger Schluss gemacht. Und der Schweizer PVKonzern Meyer Burger, ein Großhersteller von PV-Modulen, der bisher überwiegend in Deutschland produziert, hat angekündigt, die Fotovoltaikproduktion komplett von Sachsen nach Arizona und Colorado zu verlagern.
Die Begründung lautet wie gehabt : Hohe Energiekosten, überbordende Bürokratie und kein Schutz gegen Dumpingimporte aus Asien und Amerika. Die im Net Zero Industry Act festgelegte Vorgabe, bis 2030 mindestens 40 Prozent der für die Energiewende benötigten Komponenten in Europa zu produzieren, kann sich die EU so gleich wieder einrexen.
Die Industrie macht sich also wegen der widrigen Bedingungen auf leisen oder, wie im Fall Meyer Burger, auch auf lauteren Sohlen davon. Aber niemand will wahrhaben, wie hier die Basis des europäischen Wohlstands wegbröckelt.
Weshalb wohl auch der jüngste gemeinsame Aufschrei von 70 Topmanagern europäischer Großunternehmen reichlich wenig beachtet wurde. Die haben davor gewarnt, dass Europa den Wettlauf mit China und den USA auch in den grünen Zukunftsindustrien verlieren werde, und festgestellt, dass gerade Investitionen in großem Stil aus Europa in andere Weltregionen verlagert werden. Die Wirtschaftslenker verlangen, um diese Entwicklung zu stoppen, einen European Industrial Deal mit einer Senkung der nicht zuletzt durch verunglückte Energiewenden hochgetriebenen Energiepreise, einer vernünftigeren Gestaltung der teilweise völlig überzogenen Vorschriften für Klima- und Umweltschutz, besseren Finanzierungsmöglichkeiten für saubere Technologien und eine Entschärfung des Lieferkettengesetzes, das ein Angriff auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit sei. Interessiert aber keinen.
Man sieht, es ist wirklich fünf vor 12 – wenn nicht schon später. Das sind die wahren Probleme des Kontinents – und sie sind durchaus existenziell. Um sie zu lösen, brauchte es eine gewaltige Kraftanstrengung, eine Zurückdrängung festgefahrener Ideologien, vor allem aber die Konzentration der besten Kräfte im Zentrum der Union. Davon sind wir leider ziemlich weit entfernt. Mit, Entschuldigung, Kindereien wie dem Schwerpunkt auf „Kampf gegen rechts“im Europaparlament oder für eine zuwanderungsfreie „Festung Europa“werden wir im kompetitiver werdenden globalen Umfeld leider übrigbleiben. Auch wenn man damit bei der heimischen Klientel punkten kann.