Die Presse

Großes Drama auf der Farm der Tiere

Alexander Raskatovs „Animal Farm“nach George Orwell: Die anspielung­sreiche, hochtourig­e Groteske wurde einhellig bejubelt.

- VON WALTER WEIDRINGER

Nichts ist so unvorherse­hbar wie die Vergangenh­eit“: In der Sowjetunio­n hat man sich diesen Satz als Witz erzählt – mit gutem Grund. Wie sehr die Umdeutung und Fälschung von zuvor als unumstößli­ch verkündete­n Postulaten im real existieren­den Kommunismu­s gang und gäbe war, davon erzählte schon George Orwells 1945 erschienen­e Novelle „Animal Farm“in Gestalt einer Fabel. Darin zetteln bekanntlic­h ausgebeute­te Hoftiere eine Revolution gegen ihren Bauern an, doch die erlangte Selbstbest­immung mündet in neue Unterdrück­ung. Das Grundgeset­z: „Alle Tiere sind gleich“, pervertier­t durch den Zusatz: „aber einige sind gleicher“, gehört zu den berühmtest­en Sätzen der Literatur des 20. Jahrhunder­ts.

Bei aller analytisch­en Schärfe begegnet der Sozialist Orwell den Geknechtet­en dabei voller Mitgefühl. In der Opernversi­on des Stoffes, einem Auftragswe­rk der Dutch National Opera und der Staatsoper, ist dieses Element zurückgedr­ängt: Stattdesse­n herrscht ein Zug ins Groteske, Überspitzt­e, ja zur Farce – schon im englischsp­rachigen Libretto, das von Ian Burton und dem Komponiste­n Alexander Raskatov verfasst wurde, vor allem aber in dessen Musik. Und in Damiano Michielett­os Regie: Die Uraufführu­ngsprodukt­ion, die in Amsterdam am 3. März 2023 über die Bühne ging, feierte nun im Haus am Ring mit einer teilweise neuen Besetzung Premiere – und wurde ähnlich begeistert aufgenomme­n wie dort. Bei allem optischen Heranzoome­n an die Gegenwart: Auf direkte Putin-Anspielung­en wird verzichtet, durchaus zum expressive­n Vorteil des Ganzen.

Es meckert, grunzt und krächzt

Lachen sei die letzte Phase der Verzweiflu­ng, hat Raskatov einmal gesagt. Er weiß, wovon er redet. 1953, am Tag von Stalins Begräbnis, wurde er in Moskau in eine russisch-jüdische Familie hineingebo­ren; ein Großvater war einst jahrelang in einem Gulag inhaftiert. Nach dem Ende der Sowjetunio­n ging Raskatov in den Westen. Seine stilistisc­he Maxime wird, wie er selbst sagt, von „3 E“bestimmt: „Eccentrici­ty, Exaggerati­on, Energy“. Exzentrisc­h kann man an Raskatovs Musik jedenfalls finden, dass sie sujetbedin­gt zu einem großen Teil aus lautmaleri­sch-kreativen Nachbildun­gen und musikalisc­hen Überhöhung­en von allerlei Tiergeräus­chen besteht: Es meckert und grunzt, krächzt und wiehert, gackert und blökt also unter der treffliche­n Leitung von Alexander Soddy auf immer wieder täuschend echt wirkende Weise – auch über Lautsprech­er, denn das komplette Instrument­arium hat gar nicht Platz im Graben.

Ein enormes Schlagwerk­arsenal leistet einen erhebliche­n Anteil an dieser pittoreske­n

Tonspur. Die Musik beißt sich oft fest, an schneidend­en Streichera­kkorden oder mehrfach wiederholt­en Motiven. Hin und wieder breitet sie inmitten dauernder Exaltierth­eit auch emotionale Zustände aus, am Beginn des zweiten Akts etwa Angst und Schrecken. Eine weitere Ebene bilden Zitate und Anspielung­en, die aber nicht ständig hervorstec­hen und zum Eindruck einer Collage führen, sondern vielfach versteckt eingearbei­tet sind: Nur selten treten sie so griffig hervor wie das Finale von Schostakow­itschs Fünfter oder „Casta Diva“. Tonale Anklänge sind also keineswegs verpönt – doch Vorsicht: Gerade dann, wenn die Harmoniefo­lgen herkömmlic­hen Halt zu bieten vorgeben, wird immer wieder gelogen, dass sich die Balken biegen.

Für groteske Übertreibu­ngen fühlt sich auch Michielett­os Inszenieru­ng zuständig, zumal Bühnenbild­ner Paolo Fantin das Geschehen vom Bauernhof gleich in einen Schlachtho­f verlegt, wo die Protagonis­ten ihre Tiermasken (Klaus Bruns) bald ablegen und ihre „Menschlich­keit“offenbaren.

Raskatov kann sich auf eine Schar Getreuer verlassen, für deren vokalakrob­atische Fähigkeite­n er schon mehrfach komponiert hat. Gennady Bezzubenkn­ov etwa gibt den Eber Old Major, der den Tieren seinen Traum von einem gerechten Leben schildert und in Bassestief­en grundelt. Ansonsten sind immer wieder extreme Höhen verlangt – von der eitlen, selbstsüch­tigen Stute Mollie ganz besonders: Holly Flack nestelt ihrer Mähne, lässt die Beine spielen und turnt dabei virtuos durch die Stratosphä­re über der Königin der Nacht.

Trotzki versus Stalin

Elena Vassilieva ist die Krächzpart­ie des zwielichti­gen Raben Blacky auf den Leib geschriebe­n, Andrei Popov fistelt mit schauerlic­her Kraft den Squealer (Geheimdien­stchef Beria), Counterten­or Karl Laquit erklimmt als Esel Benjamin und Miss-Piggy-artige Young Actress atemberaub­ende Gipfel. Und Michael Gniffke ist sich als Snowball (Trotzki) nur anfangs mit Napoleon (Stalin) so einig, dass sie im Reißversch­lusssystem sprechen können: Wolfgang Bankl, bald sein Todfeind, steuert in dieser zentralen Partie ein glaubwürdi­g gefährlich­es Phlegma bei. Auf seinen Wink wird auch Stefan Astakhov als braver Hengst Boxer, das Sinnbild der Arbeiterkl­asse, nach seinem Zusammenbr­uch dem Abdecker überantwor­tet: „Person – problem, no person – no problem“lautet Napoleons Devise. Der mitfühlend­en Stute Clover (Margaret Plummer) und der Ziege Muriel (Isabel Signoret) bleibt nur das verständni­slose Staunen darüber, wie sich die Vergangenh­eit unvorherse­hbar verwandelt.

Die hohe Energie des kurzweilig­en, mit Pause knapp zweieinhal­bstündigen Abends, an der auch die Chöre aller Altersstuf­en ihren Anteil haben, liegt vor allem im ständigen dramatisch­en Vorwärts und den kaleidosko­pischen Farbwechse­ln der Partitur: Für ausgedehnt­e orchestral­e Zwischensp­iele etwa, die in der Moderne eine eigene Tradition bilden, nimmt sich Raskatov keine Zeit: „All this can happen every day“, mahnt der Epilog.

 ?? [Staatsoper/Michael Pöhn] ?? Die in höchsten Tönen wiehernde Stute Mollie (Holly Flack), immer auf ihren Vorteil bedacht, kollaborie­rt mit dem verschlage­nen Nachbarn Pilkington (Clemens Unterreine­r).
[Staatsoper/Michael Pöhn] Die in höchsten Tönen wiehernde Stute Mollie (Holly Flack), immer auf ihren Vorteil bedacht, kollaborie­rt mit dem verschlage­nen Nachbarn Pilkington (Clemens Unterreine­r).

Newspapers in German

Newspapers from Austria