Die Presse

Das dritte Kriegsjahr und sein mögliches Ende

Krieg gegen die Ukraine. Vier mögliche Szenarien für ein Kriegsende – und ein Worst Case.

- VON ALBRECHT ROTHACHER

Wir schreiben August 1916. Das verdammte dritte Kriegsjahr beginnt. Auf eine Isonzo-Schlacht folgt die nächste. Die Menschenve­rluste betragen mehr als das Zwanzigfac­he des aktuellen Stellungsk­riegs der Donbass-Gefechte. Doch sind die Menschen- und Materialre­serven der Entente nach dem amerikanis­chen Eingreifen unerschöpf­lich. Nach weiteren zwei Jahren brechen die Mittelmäch­te ausgehunge­rt und ausgeblute­t zusammen. Statt des noch 1916 von ihnen angebotene­n Ausgleichs­friedens der schlimmste Fall: die Pariser Vorstadtdi­ktate, die künftiges, noch schlimmere­s Unheil säen.

Auch wenn die Gräben viel dünner besetzt sind, macht sich auch im heutigen Ukraine-Krieg auf beiden Seiten Kriegsmüdi­gkeit breit. Denn jeder Krieg endet einmal. Selten wie geplant und meist nicht so, wie man es sich erhofft hat. Wie könnte es weitergehe­n? Beginnen wir mit dem ultimative­n Worst-Case-Szenario: Trump und Putin treffen einander im November in Mar-a-Lago und machen einen Deal. Trump offeriert die Waffenbrüd­erschaft von 1945 mit den damaligen Demarkatio­nslinien als exklusive Einflusszo­nen. Im Gegenzug muss Putin seine bisherigen Bundesgeno­ssen China, Nordkorea und den Iran als neuer US-Verbündete­r im Stich lassen.

Szenario zwei: In einer demoralisi­erten Ukraine gelingt es dem russischen Geheimdien­st, Selenskij zu stürzen und Viktor Janukowits­ch oder einen ähnlichen Vaterlands­verräter in Kiew zu installier­en. Der schließt einen Friedensun­d Freundscha­ftsvertrag mit Putin, um sich mit Russland und Belarus auf ewig zu konföderie­ren. Da die Amerikaner an Europa desinteres­siert sind, droht Putin, auch das Baltikum, Finnland und Moldau von „Faschisten“befreien zu wollen.

Szenario drei: Die Front „friert ein“wie weiland 2014 und in den anderen postsowjet­ischen Kriegen in Transnistr­ien oder Südossetie­n mit einem informelle­n Waffenstil­lstand, der immer wieder von unkontroll­ierbaren Milizen aller Art gestört wird. Kein Frieden, kein Krieg. Die Wirtschaft beider Seiten kann sich nicht entwickeln. Jeder lauert auf die nächste Runde.

Szenario vier: Ein unbelastet­er Staatsmann des Westens, nennen wir ihn Kickl, und sein Vize Nehammer fliegen mit dem Segen der Amerikaner nach Kiew/Moskau und verhandeln einen für beide Seiten gesichtswa­hrenden Frieden: Zuerst ein Waffenstil­lstand mit der Entmilitar­isierung der umstritten­en Oblaste des Donbass und der Krim. UNO-Blauhelme hinein. Beginn des Wiederaufb­aus und Rückkehr der Vertrieben­en und Flüchtling­e. Ende der Russland-Sanktionen. Nach ein, zwei Jahren ein Referendum unter internatio­naler Aufsicht zur nationalen Zugehörigk­eit der jeweilige Oblaste und Rajons. 1920 ist dies in Kärnten, Deutsch-Westungarn, etc. alles schon einmal dagewesen. Mit welchen neuen Grenzen auch immer gibt es Nato- und US-Sicherheit­sgarantien für die Ukraine.

Ein Reformer nach Putin?

Szenario fünf, das Überrasche­ndste: Putin fällt bei der Raucherpau­se aus dem geöffneten Kremlfenst­er, verschluck­t sich an einer Polonium-Tablette aus der Kreml-Apotheke oder verschwind­et nach einem Unwohlsein in einem Sanatorium im Ural. Aus dem nach Diktatoren­stürzen üblichen Triumvirat setzt sich plötzlich ein prowestlic­her Reformer durch, den ähnlich wie Gorbatscho­w oder Jelzin vorher als Apparatsch­ik niemand auf dem Radar hatte. Der Krieg geht mit leichten territoria­len Konzession­en zu Ende. Westinvest­itionen sind wieder willkommen. Romano Prodis Vision einer eurasische­n Freihandel­szone (2001) und die Nato-Partnersch­aft mit Russland von 1997 hätten neue Geltung. Ein Albtraum wäre vorüber.

Albrecht Rothacher (*1955) war von 1984 bis 2020 im diplomatis­chen Dienst der EU, zuletzt Leitender Verwaltung­srat im Russland-Referat des EAD in Brüssel.

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