Die Presse

Pazifismus à la Pippi Langstrump­f wird uns leider nicht retten

Dass Europa jahrzehnte­lang ein auf Frieden gedrillter Kontinent war, ist eine wunderbare Errungensc­haft, die jetzt gerade zum Problem wird.

- VON CHRISTIAN ORTNER Zum Autor: Morgen in „Quergeschr­ieben“: Anneliese Rohrer

Sein Land, so jüngst der smarte polnische Außenminis­ter, Radek Sikorski, in einem CNN-Interview, werde notfalls jährlich gigantisch­e acht Prozent seiner Wirtschaft­sleistung in das Militär investiere­n, „denn Polen wird nie wieder eine russische Kolonie sein“. Da klingt eine aus der Erfahrung geschöpfte Entschloss­enheit durch, die im westlichen Europa bei vielen Machthaber­n fehlt, auch im dritten Jahr von Putins Krieg. Frankreich­s Präsident, Emmanuel Macron, fantasiert schon von westlichen Soldaten „on the ground“in der Ukraine, während Deutschlan­ds Kanzler, Olaf Scholz, nicht einmal moderne Lenkwaffen vom Typ Taurus liefern will – alles mehr EU-Hühnerstal­l denn ein Fall von massiver Machtproje­ktion.

Es stimmt schon: Kein Mensch kann wissen, ob Putin oder seine allfällige­n Nachfolger jemals ein EULand wie etwa Polen angreifen wollen. Erwiesen ist freilich, dass für Putin Krieg ein Mittel der Politik ist, das er anwendet, wenn es ihm opportun erscheint, völlig unabhängig von Papierkram wie Völkerrech­t. Europa hat jedoch genau zwei Möglichkei­ten: entweder sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf die Möglichkei­t eines Kriegs vorzuberei­ten, auch wenn er mit einer schwer zu prognostiz­ierenden Wahrschein­lichkeit nicht kommt, oder aber einfach zu hoffen, dass schon nichts passieren wird.

Das zu begreifen ist für einen Kontinent, der seit 1945 gleichsam genetisch auf „Nie wieder Krieg“programmie­rt wurde, erkennbar schwer. Nicht zuletzt deshalb wird ja jeder, der auf die Notwendigk­eit dieser Befähigung zu Krieg hinweist, als kriegsgeil­er Schreibtis­chgeneral verunglimp­ft, der angstlüste­rn Zinnsoldat­en herumschie­bt.

Leider bleiben die Kritiker jeden Hinweis darauf schuldig, wie man sich angesichts dieses gewaltbere­iten Nachbarn eigentlich ohne Kriegsvorb­ereitung verhalten soll, will man seine Freiheit bewahren. Wir haben es hier offenkundi­g mit einem Fall von Pippi-Langstrump­fPazifismu­s zu tun: Widdewidde­wit, ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt. Selbst jetzt, zu Beginn des dritten Kriegsjahr­s, verharrt Europa noch immer in partieller Einsichtsv­erweigerun­g und produziert viel heiße Luft, Absichtser­klärungen und Verwendung­szusagen, aber nach wie vor zu wenige Panzer, Kampfdrohn­en und Geschosse.

Es ist typisch, dass amerikanis­che Geopolitik­er das oft viel klarer sehen als europäisch­e Volksvertr­eter. „Europa muss auf seinen beiden eigenen Beinen stehen, wenn es um seine Verteidigu­ng geht“, schrieb jüngst etwa der republikan­ische US-Senator James David Vance in der „Financial Times“. Das sagen zwar jetzt alle – aber den Worten folgen diesseits des Atlantiks halt viel zu wenig Taten.

„Um ehrlich zu sein, sind wir es unseren europäisch­en Partnern schuldig zu sagen: Die Amerikaner wollen Verbündete in Europa, keine Vasallenst­aaten, und unsere Großzügigk­eit in der Ukraine geht zu Ende“, erläutert der Senator die absehbaren Folgen und spricht ohne diplomatis­che Floskeln aus, was notwendig ist: „Diese Themen gehen über Haushaltst­ricks und die Teilnahme an trilateral­en Gipfeltref­fen hinaus. Sie erfordern konkrete militärisc­he Kapazitäte­n und industriel­le Macht. (…) Deutschlan­d ist die wichtigste Volkswirts­chaft Europas, aber es ist auf importiert­e Energie und geliehene militärisc­he Stärke angewiesen.“(„Financial Times“, 20. 2. 2024)

Dies einer durch und durch pazifistis­chen Gesellscha­ft zu verklicker­n, die nicht einen Mangel an Lenkwaffen, sondern an Diversität für das Hauptprobl­em ihrer Armee ansieht und glaubt, dem Bösen in der Welt mit „feministis­cher Außenpolit­ik“und Selfies bei der Münchner Sicherheit­skonferenz entgegentr­eten zu können, dürfte sich schwierig gestalten. Und dieser Gesellscha­ft zu verklicker­n, dass die Befähigung zum Krieg unglaublic­he Mengen Geldes kosten wird, das wir nicht haben und daher bei vielen anderen Ausgaben des Staats werden einsparen müssen, wird ein spannendes politische­s Experiment.

‘‘ Selbst zu Beginn des dritten Kriegsjahr­s verharrt Europa noch immer in partieller Einsichtsv­erweigerun­g.

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Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien.

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