Letztes Geleit für Nawalny: „Wir geben nicht auf“
Trotz des Großaufgebots der Polizei sind in Moskau Tausende Menschen zusammengekommen, um dem in Haft ums Leben gekommenen russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny die letzte Ehre zu erweisen.
Als der schwarze Leichenwagen mit dem Sarg von Alexej Nawalny die Kircheneinfahrt passiert, klatscht die Menge. „Na-wal-ny, Na-wal-ny, Na-wal-ny“, rufen Tausende Frauen und Männer, die an diesem Tag zur Kirche der Gottesmutter-Ikone „Lindere mein Leid“in den Südosten Moskaus geradezu gepilgert sind. Sie wollen sich von ihrem Idol, der symbolgewordenen Hoffnung für Veränderungen in Russland, verabschieden.
Sie sind aus Nowosibirsk hierhergefahren, aus Saratow, aus Sankt Petersburg. Sie halten Nelken in der Hand und Rosen und Astern. „Alexej, wir vergessen dich nie“, rufen sie immer wieder. Manche haben Tränen in den Augen. Dicht an dicht stehen sie im Kirchenvorhof und an in den Straßen nebenan, sie klettern auf die Schneehügel und schwenken mit ihren Blumen. „Danke, Alexej!“
„Wir werden nicht aufgeben“
Die Behörden haben ihr Einschüchterungspotenzial derweil hochgefahren. An den Straßen entlang stehen alle fünf bis zehn Meter Männer der Nationalgarde und der Spezialpolizei Omon, Polizisten patrouillieren an den Metroausgängen und an Brückenzugängen, Sicherheitskräfte in Zivil filmen, in den Parks sitzen Polizisten hoch zu Ross. Die Mobilfunkverbindungen sind gestört, das Internet funktioniert nicht. Immer wieder brüllen Polizisten, die Menschen sollten die Wege nicht blockieren. Doch die Menschen, jung wie alt, schreckt das alles nicht. „Wir werden nicht aufgeben!“, rufen sie.
Nur langsam lassen zwei Polizisten die Menschen nach genauer Kontrolle in die Kirche, nach 40 Minuten ist der Abdankungsgottesdienst vorbei. Im offenen Grab liegt der tote 47-Jährige aufgebahrt, der am 16. Februar in der Strafkolonie „Polarwolf“hinter dem Polarkreis sein Leben verlor. Seine Eltern, Ljudmila und Anatoli, sitzen in der Schummrigkeit unter der Kuppel, der Priester betet auf Altkirchenslawisch. Etwa 300 Menschen werden es am Ende geschafft haben, sich von Nawalny zu verabschieden, bevor sein Sarg zurück in den Leichenwagen getragen und zum Borissowo-Friedhof zehn Autominuten weiter gebracht wird. Die Menschen klatschen wieder, werfen ihre Blumen auf den Wagen, ziehen in einer kilometerweiten Prozession zum Friedhof.
„Dem Staat ins Gesicht lachen“
„Als Alexej starb, stürzte meine Welt ein. Alles vorbei, die Hoffnung tot“, sagt Swetlana, die aus einer Kleinstadt an der Wolga nach Moskau gekommen ist. „Doch Alexej lächelte immer, selbst hinter Gittern hat er uns erheitert. Ich versuche nun auch zu lächeln, dem Staat, der uns so viel nimmt, der uns nicht einmal Blumen für einen Toten ablegen lässt, ins Gesicht zu lachen“, sagt die 51-Jährige, die drei Stunden an der Kirche angestanden hat. Sie klingt trotzig, lachen aber kann sie an diesem Tag nicht. Sie bricht in Tränen aus. Auch Polina, einer 28-Jährigen, laufen Tränen über die Wangen, als sie den Weg an den vielen Polizisten vorbei sucht, um sich in den Zug der Trauernden zum Friedhof einzureihen.
„Seit zwei Jahren spüre ich gleichzeitig Wut, Hilflosigkeit, Trauer. Ich bin für mich hier. Ich will mir selbst beweisen, dass wir nun für Alexei, für unser Land selbst kämpfen müssen. Zu lang saß ich nur gleichgültig zu Hause, dachte, irgendeiner würde es schon machen, dass ich in einem freien Land leben kann. Ich ging selten zu Straßenprotesten, vertraute auf andere. Aber nein, ich bin es selbst, die dafür einstehen muss. Das ist Alexejs Vermächtnis.“So sprechen viele rund um die Kirche. Sagen,
Nawalny habe sie gelehrt, zu politischen Subjekten zu werden. „Wir sind uns der Risiken bewusst, in einer Diktatur zu leben, in der es immer düsterer wird. Aber wir sind nicht allein. Ich sehe so viele Menschen hier, die genauso denken wie ich. Das stärkt“, sagt die 40-jährige Natalja. Später hallt ein lautes „Nein zum Krieg“rund um die Kirche. Der Abschied ist auch ein politischer. Ein rührender und trauriger. Trotz den Niederträchtigkeiten des Staates in den Tagen vor der Beerdigung.
Zugang zu Friedhof gesperrt
Dass Nawalny selbst als Leichnam die Politik des Landes mitbestimmt, zeigte der Umgang mit ihm und seiner Familie nach dessen Tod, den sein Team, seine Anhänger und auch die EU als politischen Mord bezeichnen. Erst war überhaupt nicht klar, wo sich die sterblichen Überreste des Oppositionellen befinden. Ljudmila Nawalnaja, die Mutter des 47-Jährigen, suchte tagelang nach ihrem Sohn. Die Behörden hatten sie immer wieder vertröstet, auch unter Druck gesetzt.
Sie sollte einer stillen Trauerfeier zustimmen, nur im engsten Kreis. Selbst Leichenwagenfahrer wurden von den Behörden unter Druck gesetzt, damit sie Nawalnys Leichnam nicht in die Kirche fahren. Das Team Nawalny ist Schikanen jedoch seit jeher gewohnt. Mittlerweile operiert es aus dem Ausland, in Russland gelten die Organisationen Nawalnys als extremistisch. „Jeder, der will, kann sich von Alexej verabschieden“, sagte das Team immer wieder. Doch so einfach ist das nicht.
Zum Friedhof lässt die Polizei die Trauernden nicht, sperrt den Zugang. Selbst in Hinterhöfen, die kilometerweit weg sind, stellen Polizisten Absperrungen auf, damit sich die Menschen keine Schleichwege suchen. „Ich will nur Blumen ablegen. Wir werden doch Alexejs Lächeln nie mehr in echt sehen“, sagt Swetlana und versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. „Nein zum Krieg“, rufen die Menschen, die Autos auf den Straßen hupen aus Solidarität. „Alexej, du bist nun frei!“