Die Welt fordert volle Aufklärung von Israel
Nach Massenpanik samt Schießerei in Gaza mit 112 Toten verhinderten die USA eine Resolution im UN-Sicherheitsrat gegen Israel. Die Hoffnung auf eine Feuerpause ist vage.
Wien/New York/Jerusalem. Schock, Entsetzen und Kritik an Israel: So reagierte die internationale Gemeinschaft auf die Nachricht aus Gaza City über den Tod von 112 Palästinensern und von rund 700 Verletzten nach einer Massenpanik im Südwesten der devastierten Stadt. Von der UNO in New York über Paris, Berlin bis in die arabische Welt wird der Ruf nach einer Untersuchung des Zwischenfalls laut, der zwei Sichtweisen suggeriert. Die Hamas spricht von einem „Massaker“, während Israels Armee Schwarz-Weiß-Bilder einer Drohne veröffentlicht hat, die die Version von einem Unfall und Notwehr stützen sollen.
Sicher scheint, dass ein Konvoi von 38 Lkws mit Hilfslieferungen Donnerstagfrüh in einer wartenden Menge eine Massenpanik ausgelöst hat, bei dem Lastwagen über Menschen rollten. Israelische Soldaten hatten Warnschüsse abgegeben, um die Menge zu zerstreuen. Als der Volkszorn sich gegen die Soldaten richtete und die sich bedroht sahen, eröffneten zumindest einzelne das Feuer. Ärzte in der Al-Shifa-Klinik in Gaza berichteten indessen von wenigstens einem Dutzend Toten mit Schusswunden sowie von Dutzenden angeschossenen Verletzten.
Chaos und Anarchie
Im nördlichen Gazastreifen ist die Situation so prekär, weil seit Februar kaum Hilfskonvois aus dem Süden vordringen. Es herrschen Chaos und Anarchie, und es kommt zu Plünderungen durch Banden. UN-Generalsekretär António Guterres forderte einen sofortigen humanitären Waffenstillstand.
Israel steht international am Pranger. Die Kritik an der Regierung von Benjamin Netanjahu wird immer massiver, von Südafrika bis Kolumbien häufen sich die Vorwürfe wegen angeblichen Völkermords. Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident, zeigte sich entrüstet „Ich verurteile diese Schießereien aufs Schärfste und fordere Wahrheit, Gerechtigkeit und Respekt vor dem Völkerrecht.“
Im Hauptquartier in New York ist der Sicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengetreten. Nur die USA haben mit ihrem Veto eine Resolution verhindert, die das Vorgehen Israels verurteilen sollte. Zugleich fordert aber auch das Außenministerium in Washington von Israel eine umfassende Aufklärung über das „Blutbad“in Gaza, wie es EU-Außenpolitik-Koordinator Josep Borrell bezeichnet hat. Nach Angaben der Hamas hat der Gaza-Krieg bisher bereits mehr 30.000 Menschenleben gefordert.
Hoffen auf einen Geiseldeal
Die USA versuchten indessen, die Hoffnung auf einen Geiseldeal am Leben zu halten. Präsident Joe Biden räumte jedoch ein, dass ein Abkommen über eine Ramadan-Waffenruhe bis zum Montag – seinem avisierten Ziel – nicht zustande kommen werde. Die ohnedies schwierigen Verhandlungen würden durch den Vorfall in Gaza nur noch komplizierter. In Telefonaten mit den Verhandlungspartnern in Ägypten und Katar haben Biden und Außenminister Antony Blinken auf eine Fortsetzung der Gespräche gedrängt. Sameh Shoukry, der ägyptische Außenminister, wollte die Hoffnung jedenfalls nicht aufgeben. Bis zum Beginn des Ramadan am 10. März bleibt noch eine Woche für einen Pakt über eine 40-tägige Feuerpause zwischen Israel und der Hamas.
Auch der interne Druck auf Biden nimmt zu. Nach einem Wahlboykott des linken Flügels der Demokraten bei der Vorwahl in Michigan spricht sich eine Mehrheit der Parteigänger der Demokraten gegen eine US-Militärhilfe für Israel aus. Nach israelischen Medienberichten soll der US-Präsident dem israelischen Premier signalisiert haben, Israel im März die Erlaubnis für die Verwendung von US-Waffen zu entziehen.
In Israel hat sich derweil ein Demonstrationszug in Gang gesetzt, der eine sofortige Freilassung der Geiseln fordert und den Druck auf die Regierung in Jerusalem erhöht. Für eine Etappe schloss sich Benny Gantz den Aktivisten an. Der ehemalige Armeechef und Verteidigungsminister ist seit 7. Oktober Teil des dreiköpfigen Kriegskabinetts. Der Protestmarsch soll am Samstag in der israelischen Hauptstadt eintreffen. Die Hamas gab bekannt, dass weitere sieben Geiseln tot sind.
Gleichzeitig haben Dutzende Aktivisten der Siedlerbewegung die Grenzbarrieren zum Gazastreifen durchbrochen, um den Küstenstreifen für sich zu reklamieren und erste provisorische Außenposten zu errichten. Bei einer Konferenz in Jerusalem haben Radikale kürzlich ihren Anspruch auf die Besiedlung des Küstenstreifens erhoben, was selbst Premier Netanjahu strikt ablehnt – von der Biden-Regierung ganz zu schweigen.
Militärdienst für Ultraorthodoxe?
Währenddessen hat die rechts-religiöse Regierung eine Kontroverse über die Aufhebung von Ausnahmeregeln für Ultraorthodoxe losgetreten, um sie zum Militärdienst einzuziehen. Lang ein Tabu, ist diese Frage für die Koalition Netanjahus eine Zerreißprobe. Verteidigungsminister Joav Gallant denkt bereits einen Schritt weiter. Er drohte den Hisbollah-Milizen im Südlibanon mit einer Eskalation des Kleinkriegs, selbst für den Fall, dass im Gazastreifen eine vorläufige Waffenruhe während des Ramadans in Kraft treten sollte. Israel hat zuletzt die Angriffe intensiviert und sogar im Bekaa-Tal im Nordosten des Libanon bombardiert.