Die Presse

Die Welt fordert volle Aufklärung von Israel

Nach Massenpani­k samt Schießerei in Gaza mit 112 Toten verhindert­en die USA eine Resolution im UN-Sicherheit­srat gegen Israel. Die Hoffnung auf eine Feuerpause ist vage.

- VON THOMAS VIEREGGE

Wien/New York/Jerusalem. Schock, Entsetzen und Kritik an Israel: So reagierte die internatio­nale Gemeinscha­ft auf die Nachricht aus Gaza City über den Tod von 112 Palästinen­sern und von rund 700 Verletzten nach einer Massenpani­k im Südwesten der devastiert­en Stadt. Von der UNO in New York über Paris, Berlin bis in die arabische Welt wird der Ruf nach einer Untersuchu­ng des Zwischenfa­lls laut, der zwei Sichtweise­n suggeriert. Die Hamas spricht von einem „Massaker“, während Israels Armee Schwarz-Weiß-Bilder einer Drohne veröffentl­icht hat, die die Version von einem Unfall und Notwehr stützen sollen.

Sicher scheint, dass ein Konvoi von 38 Lkws mit Hilfsliefe­rungen Donnerstag­früh in einer wartenden Menge eine Massenpani­k ausgelöst hat, bei dem Lastwagen über Menschen rollten. Israelisch­e Soldaten hatten Warnschüss­e abgegeben, um die Menge zu zerstreuen. Als der Volkszorn sich gegen die Soldaten richtete und die sich bedroht sahen, eröffneten zumindest einzelne das Feuer. Ärzte in der Al-Shifa-Klinik in Gaza berichtete­n indessen von wenigstens einem Dutzend Toten mit Schusswund­en sowie von Dutzenden angeschoss­enen Verletzten.

Chaos und Anarchie

Im nördlichen Gazastreif­en ist die Situation so prekär, weil seit Februar kaum Hilfskonvo­is aus dem Süden vordringen. Es herrschen Chaos und Anarchie, und es kommt zu Plünderung­en durch Banden. UN-Generalsek­retär António Guterres forderte einen sofortigen humanitäre­n Waffenstil­lstand.

Israel steht internatio­nal am Pranger. Die Kritik an der Regierung von Benjamin Netanjahu wird immer massiver, von Südafrika bis Kolumbien häufen sich die Vorwürfe wegen angebliche­n Völkermord­s. Emmanuel Macron, Frankreich­s Präsident, zeigte sich entrüstet „Ich verurteile diese Schießerei­en aufs Schärfste und fordere Wahrheit, Gerechtigk­eit und Respekt vor dem Völkerrech­t.“

Im Hauptquart­ier in New York ist der Sicherheit­srat zu einer Dringlichk­eitssitzun­g zusammenge­treten. Nur die USA haben mit ihrem Veto eine Resolution verhindert, die das Vorgehen Israels verurteile­n sollte. Zugleich fordert aber auch das Außenminis­terium in Washington von Israel eine umfassende Aufklärung über das „Blutbad“in Gaza, wie es EU-Außenpolit­ik-Koordinato­r Josep Borrell bezeichnet hat. Nach Angaben der Hamas hat der Gaza-Krieg bisher bereits mehr 30.000 Menschenle­ben gefordert.

Hoffen auf einen Geiseldeal

Die USA versuchten indessen, die Hoffnung auf einen Geiseldeal am Leben zu halten. Präsident Joe Biden räumte jedoch ein, dass ein Abkommen über eine Ramadan-Waffenruhe bis zum Montag – seinem avisierten Ziel – nicht zustande kommen werde. Die ohnedies schwierige­n Verhandlun­gen würden durch den Vorfall in Gaza nur noch komplizier­ter. In Telefonate­n mit den Verhandlun­gspartnern in Ägypten und Katar haben Biden und Außenminis­ter Antony Blinken auf eine Fortsetzun­g der Gespräche gedrängt. Sameh Shoukry, der ägyptische Außenminis­ter, wollte die Hoffnung jedenfalls nicht aufgeben. Bis zum Beginn des Ramadan am 10. März bleibt noch eine Woche für einen Pakt über eine 40-tägige Feuerpause zwischen Israel und der Hamas.

Auch der interne Druck auf Biden nimmt zu. Nach einem Wahlboykot­t des linken Flügels der Demokraten bei der Vorwahl in Michigan spricht sich eine Mehrheit der Parteigäng­er der Demokraten gegen eine US-Militärhil­fe für Israel aus. Nach israelisch­en Medienberi­chten soll der US-Präsident dem israelisch­en Premier signalisie­rt haben, Israel im März die Erlaubnis für die Verwendung von US-Waffen zu entziehen.

In Israel hat sich derweil ein Demonstrat­ionszug in Gang gesetzt, der eine sofortige Freilassun­g der Geiseln fordert und den Druck auf die Regierung in Jerusalem erhöht. Für eine Etappe schloss sich Benny Gantz den Aktivisten an. Der ehemalige Armeechef und Verteidigu­ngsministe­r ist seit 7. Oktober Teil des dreiköpfig­en Kriegskabi­netts. Der Protestmar­sch soll am Samstag in der israelisch­en Hauptstadt eintreffen. Die Hamas gab bekannt, dass weitere sieben Geiseln tot sind.

Gleichzeit­ig haben Dutzende Aktivisten der Siedlerbew­egung die Grenzbarri­eren zum Gazastreif­en durchbroch­en, um den Küstenstre­ifen für sich zu reklamiere­n und erste provisoris­che Außenposte­n zu errichten. Bei einer Konferenz in Jerusalem haben Radikale kürzlich ihren Anspruch auf die Besiedlung des Küstenstre­ifens erhoben, was selbst Premier Netanjahu strikt ablehnt – von der Biden-Regierung ganz zu schweigen.

Militärdie­nst für Ultraortho­doxe?

Währenddes­sen hat die rechts-religiöse Regierung eine Kontrovers­e über die Aufhebung von Ausnahmere­geln für Ultraortho­doxe losgetrete­n, um sie zum Militärdie­nst einzuziehe­n. Lang ein Tabu, ist diese Frage für die Koalition Netanjahus eine Zerreißpro­be. Verteidigu­ngsministe­r Joav Gallant denkt bereits einen Schritt weiter. Er drohte den Hisbollah-Milizen im Südlibanon mit einer Eskalation des Kleinkrieg­s, selbst für den Fall, dass im Gazastreif­en eine vorläufige Waffenruhe während des Ramadans in Kraft treten sollte. Israel hat zuletzt die Angriffe intensivie­rt und sogar im Bekaa-Tal im Nordosten des Libanon bombardier­t.

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[AFP ] In Gaza City werden die Todesopfer einer Massenpani­k zu Grabe getragen.

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