Hunderttausende sind in der Krise
Das psychische Befinden von 28 Prozent der Menschen in Wien ist schlechter als vor einem Jahr. Betroffen sind vor allem Frauen.
Hunderttausenden Menschen in Wien geht es schlecht. Beziehungsweise geht es 28 Prozent der Menschen in Wien schlechter als noch im Jahr zuvor. Rechnet man das auf die Wiener Bevölkerung um, sind das mehrere Hunderttausend Menschen. Das geht aus der Befragung zur psychosozialen Gesundheit in Wien hervor, die seit 2020 jährlich durchgeführt wird und deren Ergebnisse der „Presse“vorab vorliegen.
In den beiden Jahren zuvor, 2021 und 2022, war die Zahl derer, die von einer Verschlechterung ihres psychischen Zustandes in den letzten zwölf Monaten berichten, noch höher. Teils wurden aber dieselben Menschen wieder befragt, daher wisse man, „es geht denen, die schon zuvor von einer negativen Veränderung berichtet haben, noch schlechter. Zugleich sehen wir eine Polarisierung: Die, denen es zuvor nicht so schlecht ging, berichten zu 19 Prozent von einer weiteren Verbesserung“, sagt Ewald Lochner, der Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien.
Junge, Frauen, Ärmere
Wer sind die Menschen, die in der Krise stecken? Die Verschlechterung der psychischen Situation betreffe besonders Frauen, junge Menschen und Menschen aus dem unteren Einkommensdrittel, sagt Lochner. In der von Sora durchgeführten Studie gaben die Befragten an, sie seien besonders von steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen, steigenden Wohnkosten und Zukunftssorgen belastet. Bei globalen Entwicklungen wurde der Krieg in der Ukraine nun häufiger genannt als die Coronapandemie. Auch zunehmender Leistungsdruck in Arbeit oder Schule, Vereinbarkeit von privaten und beruflichen Pflichten oder Betreuungsund Pflegeaufgaben wurden als starke Belastung genannt.
Als Symptome dieses verschlechterten Befindens wurden Erschöpfung, Ängste und Schlafstörungen angegeben, ebenso Niedergeschlagenheit
und unkontrollierbare Sorgen. Frauen berichten von mehr Symptomen als Männer.
Auffallend ist: Junge Wienerinnen leiden besonders unter den psychosozialen Folgen der Krisen, sie gaben deutlich mehr Symptome an als junge Männer. Hier unterscheidet sich die Situation je nach ökonomischer Lage: Während sich im unteren ökonomischen Drittel die Lage der jungen Frauen weiter verschlechtert hat, ist der Unterschied im mittleren und oberen Drittel weniger deutlich.
Jeder Vierte nimmt Tabletten
Ebenfalls auffallend ist, wie viele Menschen in Wien ihre psychischen Probleme oder Schlafstörungen mit Tabletten behandeln: 24 Prozent der Befragten gaben an, sie hätten in den letzten vier Wochen Schlaf- oder Beruhigungsmittel genommen, 19 Prozent berichteten, sie hätten Medikamente gegen Müdigkeit und Depression geschluckt. Gerade bei Jungen sei Selbstmedikation mit verschreibungspflichtigen Medikamenten
ein Riesenproblem, sagt Ewald Lochner.
„In der Medikamenteneinnahme spiegeln sich gerade diese Symptome wie Ängste und Schlafstörungen wider“, sagt Regina Walter-Philipp, ärztliche Leiterin der Suchthilfe Wien. Gerade Junge nehmen Medikamente ein, verschreibungspflichtige ebenso wie rezeptfreie, die sie von irgendwo bekommen, ohne je in Kontakt mit einem Arzt gewesen zu sein. „Ihnen ist überhaupt nicht klar, mit welchen Folgen – von Abhängigkeit bis Langzeitfolgen und Wechselwirkungen – das verbunden sein kann“, sagt Walter-Philipp. Auch wie gefährlich gerade die Kombination von Benzodiazepinen oder sogenannten Z-Drugs, also Schlafmitteln, deren Namen mit Z beginnen, mit Alkohol sein kann, sei vielen nicht bewusst.
Von Menschen, die sich selbst mit Psychopharmaka oder anderen Medikamenten zu helfen versuchen, berichtet auch Ardjana Gashi. Sie leitet das Team der Psychosozialen Information und ist damit
für die während der Pandemie eingerichtete Sorgenhotline der Psychosozialen Dienste in Wien (01/ 4000-53000) zuständig. Auch sie berichtet von immer mehr Anruferinnen und Anrufern, mittlerweile ist das Angebot mehrsprachig verfügbar. Gibt es typische Anrufer? „Es sind vielfach Frauen zwischen 18 und 28, die nicht zuletzt durch die Mehrfachbelastung, wie Fürsorgepflichten, Ausbildung und Arbeit, mit zunehmenden psychischen Zuständen, wie Angst, Depression, Erschöpfung, reagieren. Dennoch ist die Scham, sich Hilfe zu holen, groß. Und die Angst, dass jemand von ihren Problemen erfährt“, sagt Ardjana Gashi.
Mehr Angebot, weniger Stigma
Lochner spricht davon, dass es nun jenen, die vor Corona schon „erheblich belastet“waren, so schlecht gehe, dass diese „überall aufschlagen“. Geht man von den Zahlen dieser Befragung aus, seien es zumindest 350.000 Menschen, denen es in Wien schlechter geht als zuvor, die vielleicht nicht unbedingt Behandlungsbedarf, „aber auf alle Fälle Beratungsbedarf“hätten.
Die Stadt will nun die Kampagne „Darüber reden wir“zur Entstigmatisierung psychischer Krankheit ausbauen, auch das Angebot der Sorgenhotline soll ausgebaut werden. Über diese kann dann ein passendes Angebot von einem einmaligen Entlastungsgespräch, das für manche vielleicht schon ausreichend sei, bis zu psychiatrischer oder psychosozialer Hilfe sowie diversen Beratungsstellen vermittelt werden.