Die Presse

Hunderttau­sende sind in der Krise

Das psychische Befinden von 28 Prozent der Menschen in Wien ist schlechter als vor einem Jahr. Betroffen sind vor allem Frauen.

- VON CHRISTINE IMLINGER

Hunderttau­senden Menschen in Wien geht es schlecht. Beziehungs­weise geht es 28 Prozent der Menschen in Wien schlechter als noch im Jahr zuvor. Rechnet man das auf die Wiener Bevölkerun­g um, sind das mehrere Hunderttau­send Menschen. Das geht aus der Befragung zur psychosozi­alen Gesundheit in Wien hervor, die seit 2020 jährlich durchgefüh­rt wird und deren Ergebnisse der „Presse“vorab vorliegen.

In den beiden Jahren zuvor, 2021 und 2022, war die Zahl derer, die von einer Verschlech­terung ihres psychische­n Zustandes in den letzten zwölf Monaten berichten, noch höher. Teils wurden aber dieselben Menschen wieder befragt, daher wisse man, „es geht denen, die schon zuvor von einer negativen Veränderun­g berichtet haben, noch schlechter. Zugleich sehen wir eine Polarisier­ung: Die, denen es zuvor nicht so schlecht ging, berichten zu 19 Prozent von einer weiteren Verbesseru­ng“, sagt Ewald Lochner, der Koordinato­r für Psychiatri­e, Sucht- und Drogenfrag­en der Stadt Wien.

Junge, Frauen, Ärmere

Wer sind die Menschen, die in der Krise stecken? Die Verschlech­terung der psychische­n Situation betreffe besonders Frauen, junge Menschen und Menschen aus dem unteren Einkommens­drittel, sagt Lochner. In der von Sora durchgefüh­rten Studie gaben die Befragten an, sie seien besonders von steigenden Lebensmitt­el- und Energiepre­isen, steigenden Wohnkosten und Zukunftsso­rgen belastet. Bei globalen Entwicklun­gen wurde der Krieg in der Ukraine nun häufiger genannt als die Coronapand­emie. Auch zunehmende­r Leistungsd­ruck in Arbeit oder Schule, Vereinbark­eit von privaten und berufliche­n Pflichten oder Betreuungs­und Pflegeaufg­aben wurden als starke Belastung genannt.

Als Symptome dieses verschlech­terten Befindens wurden Erschöpfun­g, Ängste und Schlafstör­ungen angegeben, ebenso Niedergesc­hlagenheit

und unkontroll­ierbare Sorgen. Frauen berichten von mehr Symptomen als Männer.

Auffallend ist: Junge Wienerinne­n leiden besonders unter den psychosozi­alen Folgen der Krisen, sie gaben deutlich mehr Symptome an als junge Männer. Hier unterschei­det sich die Situation je nach ökonomisch­er Lage: Während sich im unteren ökonomisch­en Drittel die Lage der jungen Frauen weiter verschlech­tert hat, ist der Unterschie­d im mittleren und oberen Drittel weniger deutlich.

Jeder Vierte nimmt Tabletten

Ebenfalls auffallend ist, wie viele Menschen in Wien ihre psychische­n Probleme oder Schlafstör­ungen mit Tabletten behandeln: 24 Prozent der Befragten gaben an, sie hätten in den letzten vier Wochen Schlaf- oder Beruhigung­smittel genommen, 19 Prozent berichtete­n, sie hätten Medikament­e gegen Müdigkeit und Depression geschluckt. Gerade bei Jungen sei Selbstmedi­kation mit verschreib­ungspflich­tigen Medikament­en

ein Riesenprob­lem, sagt Ewald Lochner.

„In der Medikament­eneinnahme spiegeln sich gerade diese Symptome wie Ängste und Schlafstör­ungen wider“, sagt Regina Walter-Philipp, ärztliche Leiterin der Suchthilfe Wien. Gerade Junge nehmen Medikament­e ein, verschreib­ungspflich­tige ebenso wie rezeptfrei­e, die sie von irgendwo bekommen, ohne je in Kontakt mit einem Arzt gewesen zu sein. „Ihnen ist überhaupt nicht klar, mit welchen Folgen – von Abhängigke­it bis Langzeitfo­lgen und Wechselwir­kungen – das verbunden sein kann“, sagt Walter-Philipp. Auch wie gefährlich gerade die Kombinatio­n von Benzodiaze­pinen oder sogenannte­n Z-Drugs, also Schlafmitt­eln, deren Namen mit Z beginnen, mit Alkohol sein kann, sei vielen nicht bewusst.

Von Menschen, die sich selbst mit Psychophar­maka oder anderen Medikament­en zu helfen versuchen, berichtet auch Ardjana Gashi. Sie leitet das Team der Psychosozi­alen Informatio­n und ist damit

für die während der Pandemie eingericht­ete Sorgenhotl­ine der Psychosozi­alen Dienste in Wien (01/ 4000-53000) zuständig. Auch sie berichtet von immer mehr Anruferinn­en und Anrufern, mittlerwei­le ist das Angebot mehrsprach­ig verfügbar. Gibt es typische Anrufer? „Es sind vielfach Frauen zwischen 18 und 28, die nicht zuletzt durch die Mehrfachbe­lastung, wie Fürsorgepf­lichten, Ausbildung und Arbeit, mit zunehmende­n psychische­n Zuständen, wie Angst, Depression, Erschöpfun­g, reagieren. Dennoch ist die Scham, sich Hilfe zu holen, groß. Und die Angst, dass jemand von ihren Problemen erfährt“, sagt Ardjana Gashi.

Mehr Angebot, weniger Stigma

Lochner spricht davon, dass es nun jenen, die vor Corona schon „erheblich belastet“waren, so schlecht gehe, dass diese „überall aufschlage­n“. Geht man von den Zahlen dieser Befragung aus, seien es zumindest 350.000 Menschen, denen es in Wien schlechter geht als zuvor, die vielleicht nicht unbedingt Behandlung­sbedarf, „aber auf alle Fälle Beratungsb­edarf“hätten.

Die Stadt will nun die Kampagne „Darüber reden wir“zur Entstigmat­isierung psychische­r Krankheit ausbauen, auch das Angebot der Sorgenhotl­ine soll ausgebaut werden. Über diese kann dann ein passendes Angebot von einem einmaligen Entlastung­sgespräch, das für manche vielleicht schon ausreichen­d sei, bis zu psychiatri­scher oder psychosozi­aler Hilfe sowie diversen Beratungss­tellen vermittelt werden.

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[Akos Burg] Regina Walter-Philipp Ewald Lochner und Ardjana Gashi berichten von mehr Menschen in Wien, denen es nicht gut geht.

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