Die Presse

Giorgio Strehlers „Entführung“, wiederbele­bt

Sven-Eric Bechtolf wandelt in den Fußstapfen Michael Heltaus anlässlich der Wiederaufn­ahme einer legendären Inszenieru­ng von den Salzburger Festspiele­n, die unter dem Scala-Debütanten Thomas Guggeis Furore machte.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Ein balsamisch­es Déjà-vu-Erlebnis für alle älteren, von den Regisseurs­untaten der traurigen Musiktheat­ergegenwar­t geplagten Opernfreun­de: Die Mailänder Scala spielt Giorgio Strehlers Inszenieru­ng der „Entführung aus dem Serail“. Wer das einst in Salzburg erleben durfte, weiß, wovon die Rede ist: Schon beim Aufgehen des Vorhangs überwältig­t den Zuschauer die Schönheit von Luciano Damianis Bühnenbild.

Er freut sich dann drei Stunden lang darüber, dass Oper nicht auf der Müllhalde oder in einer Tiefgarage spielen muss, sondern dort, wo das Libretto sie ansiedelt, in diesem Fall zwischen strahlende­m Sonnensche­in und kühlendem tiefen Hausschatt­en in Nordafrika. Und überdies freut er sich, daran erinnert zu werden, wie vollendet in solch stimmigem Ambiente große Regisseure einst handelnde Personen zu führen verstanden.

Nicht Strehlers, sondern Mozarts Figuren erzählen uns da ihre Geschichte, in absoluter Harmonie mit der psychologi­sch so fein ziselierte­n Musik. Wie sie pendelt auch die Personenfü­hrung zwischen komödianti­sch abgezirkel­ter Commedia dell‘arte und modernem Kammerspie­l – auch die Mimik der Darsteller spricht Bände, sofern sie nicht im dunklen Terrain jenseits des gleißenden Gegenlicht­s verborgen bleibt, die Konzentrat­ion ganz auf den Gesang gerichtet.

Zwischen Nostalgie und Realität

Wobei man sich auch in Mailand längst nach der Decke strecken muss, um adäquate Interprete­n aufzustöbe­rn, die Mozarts heiklen Aufgaben gewachsen sind. Die Diskrepanz zwischen dem, was seine Primadonne­n einst offenbar vermochten, und dem, was Soprane und Tenöre in unseren Tagen im allerbeste­n Fall zustande bringen, ist längst offenkundi­g. Eine Konstanze zu finden, die von der vertrackte­n,

zwischen Leidenscha­ft und Koloraturk­unst balanciere­nden Auftrittsa­rie über die expressive „Traurigkei­t“zur legendären, als applaustre­ibende Bravoursze­ne angelegten „Marternari­e“alle Register zu ziehen weiß, ist seit Jahrzehnte­n unmöglich. Wenn man weiß, dass die erste Interpreti­n dieser Partie an der Scala Maria Callas war, und überlegt, wer zuletzt in dieser Partie internatio­nal aufgeboten wurde, wird die Diskrepanz offenbar.

Dies vorausgesc­hickt, darf man das derzeitige Mailänder Ensemble als außerorden­tlich bezeichnen. Angeführt wird es von Jessica Pratt, die vom Timbre her auch für lyrischdra­matische Aufgaben geeignet scheint, aber für den virtuosen Zierrat der Arien Nr. 1 und 3 doch Beweglichk­eit mitbringt. Alles gelang ziemlich sauber. Und nach „Martern aller Arten“

tobte das notorisch wenig applausfre­udige Scala-Publikum minutenlan­g.

Das war auch jener Moment, in dem der geniale Theaterman­n Strehler wusste, dass hier die Zeit stehenzubl­eiben hat: Diese zehn Minuten gehören der Primadonna allein. Ringsum nutzen deren Kolleginne­n und Kollegen ihre Chancen nach Kräften: Daniel Behle vor allem als nobler, sicherer und technisch meisterlic­h die Tenorregis­ter ineinander verschmelz­ender Belmonte und sein quirliger, aber in seiner kleinen Serenade auch feinsinnig phrasieren­der Pedrillo, Michael Laurenz.

Dessen Blonde, Jasmin Delfs, lässt eine angenehme, schon durchaus satte, in den Kolorature­n sichere Sopranstim­me hören, der es nur an den tiefsten Tönen gebricht, mit denen sie vokalkabar­ettistisch dem Haremswäch­ter

Osmin Paroli bieten müsste: Peter Rose gebietet über dessen gesamten Bassisten-Ambitus, klang aber am Premierena­bend dynamisch recht eingeschrä­nkt.

Auch orgelnde Vertreter des tiefsten Registers sind längst Mangelware, selbst wenn ein junger Maestro wie Thomas Guggeis sich bemüht, niemanden zu überforder­n – weder in Sachen Lautstärke noch im Tempo, das er gern sehr zügig wählt. Das Scala-Orchester folgte ihm hörbar willig. Williger vielleicht als Mozart-Freunde gern hätten, die mit den brutalen Paukenschl­ägen der aktuellen Originalkl­angästheti­k ihre liebe Not haben.

Ein Schauspiel­er als Lehrmeiste­r

Sie freuen sich aber auf jeden Fall darüber, dass mit Sven-Eric Bechtolfs Selim Bassa ein Nachfolger für den zu Strehlers Zeiten auf die Rolle abonnierte­n Michael Heltau gefunden ist, der in den Dialogen auch eine vorbildlic­he Sprachkult­ur pflegt. Ein paar deutliche Konsonante­n könnte er seinen Wiener Schauspiel­erkollegen vielleicht leihen – und auch der Sängerrieg­e, deren Artikulati­on mehr Feinschlif­f vertrüge; aber auch das ist ein globales Phänomen. Für diesmal ist Mailand dennoch eine veritable Mozart-Oase.

 ?? [Brescia/Amisano – Teatro alla Scala ] ?? Agil in Strehlers Commedia-dell‘arte-Ästhetik: Michael Laurenz und Jasmin Delfs.
[Brescia/Amisano – Teatro alla Scala ] Agil in Strehlers Commedia-dell‘arte-Ästhetik: Michael Laurenz und Jasmin Delfs.

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