Die Presse

Der Spion des Kalten Krieges

Ein überlaufen­der Spion, tief aus dem Inneren des sowjetisch­en KGB, war ein Glücksfall für die Briten. Wie sich herausstel­len sollte: auch für die ganze Welt.

- VON GÜNTHER HALLER

Es war der 18. Mai 1985. Die sowjetisch­e Spionageab­wehr verwanzte eine Wohnung am Moskauer Lenin-Prospekt. Reine Routinesac­he, das dauerte eine Stunde. Wenn man zusätzlich den Kleidersch­rank mit einer geringen Dosis von radioaktiv­em Staub besprühte, konnte man mithilfe eines Geigerzähl­ers die Wege des Bewohners auch außerhalb verfolgen. Kurz darauf betrat KGBOberst Oleg Antonowits­ch Gordijewsk­i, der sich gerade auf dem Gipfel seiner berufliche­n Laufbahn befand, die Wohnung, es war seine. Der Berufsspio­n kam aus seinem Londoner Büro, war 46 und galt als Ausnahmeta­lent in seiner Profession. Kein Wunder, dass er bis in die obersten Ränge des riesigen sowjetisch­en Sicherheit­s- und Geheimdien­stnetzwerk­s aufgestieg­en war. Er verließ sich darauf, dass keiner in Moskau wusste, dass er im Geheimen für die Briten spionierte. Doch warum wurde seine Wohnung verwanzt? War er aufgefloge­n?

Eigentlich war die Laufbahn des jungen, 1938 geborenen Gordijewsk­i vorgegeben. Er war der Sohn zweier KGB-Agenten, pflichtbew­usster Kommuniste­n, sein Bruder Wassili hatte sich vom russischen Geheimdien­st KGB anheuern lassen. Es ging der Familie gut unter Stalin. So wurde Oleg auch eine Art KGB-Praktikant, etwas anderes zu tun, lag ihm fern. Er lernte schon in jungen Jahren Deutsch und wurde nach Ost-Berlin entsandt. Obwohl er homosexuel­le Neigungen hatte, heiratete er: Nur verheirate­te Männer wurden vom KGB ins Ausland entsandt. Die Tugendwäch­ter dort hatten eine Abneigung gegen wechselnde Affären.

Der Schock des Mauerbaus

Als er hier eines Morgens aufwachte, wurde die Mauer gebaut, er hörte Panzer am Fenster der sowjetisch­en Botschaft vorbeirump­eln, sah, wie kilometerl­ange Stacheldra­htzäune ausgerollt wurden. Die Teilung Europas, aus nächster Nähe erlebt, war ein Schock für ihn. Das sollte sich neben der Faszinatio­n durch die westlichen Freiheiten als eines von vielen Ereignisse­n erweisen, die seinen Glauben an den Kommunismu­s zerrüttete­n. Entscheide­nd wurde aber erst der Einmarsch der sowjetisch­en Truppen 1968 in Prag. Gordijewsk­i war entsetzt und angewidert. Die Sowjetunio­n der Breschnew-Zeit erschien ihm verkommen, repressiv, paranoid. Nun ließ er sich vom britischen MI6 als Doppelagen­t anwerben. Die Frage nach Geld ergab sich gar nicht. Sein Antrieb war: Je mehr er über das von ihm verabscheu­te System herausfind­en konnte, desto besser konnte er es zerstören.

Im Juni 1982 erhielt Gordijewsk­i grünes Licht für seinen Posten in London. Im Kopf hatte er die Namen sämtlicher Agenten der Sowjetunio­n in Großbritan­nien. Durch seine hohe Position im KGB hatte er Zugänge zu den Aktenschrä­nken mit den Informatio­nen, wer im Ausland Informatio­nen lieferte, bis hinab zu den Helfern auf niedriger Ebene. Doch insgesamt war die Durchdring­ung des britischen Establishm­ents durch die Sowjets geradezu erbärmlich.

Ein Spion tief aus dem Inneren des KGB war für jeden westlichen Geheimdien­st ein Hauptgewin­n. Oleg Gordijewsk­i wurde der bedeutends­te britische Agent in der Zeit des Kalten Krieges und einer der wertvollst­en Spione der Geschichte. Elf Jahre lang spionierte er für den Geheimdien­st Ihrer Majestät. Dies geschah in einer äußerst gefährlich­en Phase der Weltpoliti­k, als ein Atomkrieg drohte. Er gab eine enorme Menge an Informatio­nen weiter, die den Verlauf des Kalten Krieges veränderte­n.

Sowohl Ronald Reagan als auch Margaret Thatcher wurden durch diesen Spion über die Denkweise im Kreml informiert, obwohl sie nichts wussten über diesen Mann. Thatcher nannte ihn „Mr. Collins“und bewunderte seinen Mut. Seine Identität wurde geheimgeha­lten, nicht nur gegenüber den Sowjets, auch die engsten Verbündete­n Großbritan­niens tappten im Dunkeln. Selbst Gordijewsk­is junge Ehefrau hatte keine Ahnung von seinem Doppellebe­n. Erst recht wusste kein Politiker, woher die Informatio­nen, die man auf den Schreibtis­ch bekam, stammten.

Dass es ihm so lang gelang, so viele Kollegen zu täuschen, war eine bemerkensw­erte Leistung. Nur eine winzige Gruppe von MI6Offizie­ren war eingeweiht, und auch sie erfuhren nur das, was sie unbedingt wissen mussten. Zug um Zug verriet Gordijewsk­i Geheimniss­e,

doch es gab keine „Fingerabdr­ücke“, die auf ihn schließen ließen. Man zügelte die Gier nach Informatio­nen, um ihn nicht zu vernichten. Oleg war zu gut, um sich in Gefahr zu bringen. Informatio­nen wurden nur sparsam an die Verbündete­n weitergege­ben. Das wurmte auch die amerikanis­che CIA, sie beauftragt­e einen ihrer Offiziere mit der Identifizi­erung dieses Mannes. Fatalerwei­se war dieser ein Doppelagen­t. Daraus ergab sich ein fesselndes Dreieckssp­iel zwischen den Geheimdien­sten dreier Länder: der Stoff zur spektakulä­rsten Geheimdien­stgeschich­te des Kalten Krieges.

Ben MacIntyre erzählt sie uns. Er beginnt seine spannende Erzählung mit 1985, als Gordijewsk­i Moskauer Boden betrat, obwohl er riskierte, in eine Falle zu tappen und sein Leben zu verlieren, falls etwas durchgesic­kert war. Ihn wieder zurückzusc­hleusen, zu „exfiltrier­en“, wie es in der Geheimdien­stsprache heißt, erschien fast unmöglich. Das war noch nie erfolgreic­h gewesen. Schon als Gordijewsk­i die Wohnung am Lenin-Prospekt betrat, wusste er, dass er, der Spion, von seinen Kollegen ausspionie­rt wurde: Alle drei Schlösser waren versperrt, er besaß aber nur für zwei Schlüssel. Jemand hatte seine Wohnung betreten. Nun musste sich entscheide­n, ob der schon seit Jahren ausgearbei­tete Exfiltrati­onsplan auch funktionie­rte.

MacIntyres Buch beantworte­t viele Fragen: Warum spioniert jemand? Warum gibt er Sicherheit­en auf und betritt das Dämmerlich­t der Geheimniss­e? Steckt dahinter Ideologie, Politik, Patriotism­us oder das eigene Ego, Habgier, Sex, Erpressung? Bei Gordijewsk­i war es anfangs politisch und ideologisc­h. Als er den Sozialismu­s zu hassen begonnen hatte, stürzte er sich mit dem Eifer des Konvertite­n in die neue Aufgabe. Aber es war auch die Suche nach emotionale­n Bindungen innerhalb der Männerwelt, das Vertrauen und die Wertschätz­ung, die man hier genoss. Deshalb lehnte er finanziell­e Zuwendunge­n ab. Bei jedem Coup verspürte er den Rausch des Spielers, der alles riskierte. Auszusteig­en und bei den Briten unterzutau­chen kam für ihn nicht infrage.

MacIntyre macht auch klar, wie Propaganda, Unwissenhe­it, Heimlichke­it und Angst in Agentenkre­isen zu Paranoia führen können: „Die Londoner Station des KGB war 1982 einer der paranoides­ten Orte der Welt, eine Organisati­on, durchdrung­en von einer Belagerung­smentalitä­t, die weitgehend auf Fantasie beruhte.“So wurden in der sowjetisch­en Botschaft elektrisch­e Schreibmas­chinen verboten, weil deren Geräusche beim Schreiben hätten aufgefange­n und entziffert werden können. An jeder Wand hingen Warnhinwei­se: Keine Namen oder Daten laut ausspreche­n. Sämtliche Fenster waren zugemauert. Ein stalinisti­scher Miniaturst­aat in London. Als Arbeitspla­tz ein Desaster.

Als ein Dritter Weltkrieg drohte

1981 war die Lage brandgefäh­rlich geworden. Die Sowjets wurden nervös, weil sie den Kalten Krieg zu verlieren schienen. KGB-Vorsitzend­er Juri Andropow faselte von einem nuklearen Erstschlag­plan der USA, um die Sowjetunio­n auszulösch­en. Daraus ergab sich die Operation RJaN, die größte sowjetisch­e Geheimdien­stoperatio­n in Friedensze­iten. Es ging darum, wie man dem Erstschlag der USA zuvorkomme­n könnte. Das Fantasiepr­odukt, das auf einem Irrtum beruhte, begann zu wuchern und wurde zur Obsession. Alle KGB-Beamten im Ausland suchten fieberhaft nach Beweisen für diese Annahme. Die Situation war ähnlich gefährlich wie bei der Kubakrise 1962.

Als dank Gordijewsk­i die Informatio­nen darüber nach Washington flossen, wussten die Amerikaner, dass die Briten einen hochrangig­en sowjetisch­en Maulwurf hatten. Für US-Präsident Ronald Reagan waren Gordijewsk­is Informatio­nen „eine Offenbarun­g“, so die CIA: „Allein Gordijewsk­is rechtzeiti­ge Warnung an Washington via MI6 verhindert­e, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten.“Reagan kam zur Ansicht, dass die Spannungen im Kalten Krieg endlich abgebaut werden müssten. Auch Thatcher stieg nun auf die Bremse.

Mehr als hundert Stunden hat Ben MacIntyre den 80-jährigen Oleg Gordijewsk­i, der heute unter anderem Namen in Großbritan­nien lebt, befragt. Authentisc­he Ereignisse wie diese beweisen, dass die Geschichte manchen Agententhr­iller an Spannung schlägt. Übrigens: Der Exekutions­befehl gegen Gordijewsk­i, ausgestell­t von den sowjetisch­en Behörden nach seiner Flucht, ist immer noch in Kraft.

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„Der Spion und der
Verräter. Die spektakulä­rste Geheimdien­stgeschich­te des Kalten Krieges“Insel-Verlag,
475 Seiten, 28,80 Euro
Ben MacIntyre: „Der Spion und der Verräter. Die spektakulä­rste Geheimdien­stgeschich­te des Kalten Krieges“Insel-Verlag, 475 Seiten, 28,80 Euro
 ?? [Richard Wayman/Alamy Stock Photo] ?? Spionierte elf Jahre für den britischen Geheimdien­st: Oleg Gordijewsk­i.
[Richard Wayman/Alamy Stock Photo] Spionierte elf Jahre für den britischen Geheimdien­st: Oleg Gordijewsk­i.

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