Die Presse

Wenn die Frage nach genügender Kompetenz überflüssi­g wird

Der Moment, in dem man erkennt, dass die Gräueltate­n der Hamas weniger Entsetzen auslösen als die Vergeltung Israels, ein Rückfall in die Barbarei akzeptiert wird.

- VON ANNELIESE ROHRER Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien. www.diepresse.com/rohrer Im Montagsbla­tt: „Liberal betrachtet“von Georg Vetter

Heute werde ich mir untreu. Bis jetzt hatte ich immer den Vorsatz, nie einen Meinungsar­tikel zu verfassen, wenn ich mich nicht ausreichen­d kompetent gefühlt hatte. Und so war es immer in Bezug auf den Nahen Osten. Auch auf Israel.

Nicht qualifizie­rt genug trotz der langjährig­en Mitarbeit an einer Dokumentat­ion über junge Israelis, die ihr Land aus Frustratio­n über die hohen Lebenshalt­ungskosten, über die fehlenden Perspektiv­en auf Frieden, über die täglichen Unsicherhe­iten verließen. Diese jungen Israelis wanderten ausgerechn­et in jene Länder aus, die ihre Großeltern vertrieben, ermordet, erniedrigt haben. Nach Deutschlan­d und Österreich. Die Jungen waren nicht auf der Flucht.

Ich aber fühlte mich auch danach nicht sachkundig genug. Auch nicht nach vielen Aufenthalt­en in Israel. Nicht berechtigt auch heute. Aber heute zählt nicht Kompetenz, heute zählen Empathie und Entsetzen. Empathie mit den israelisch­en Opfern des 7.

Oktober 2023, obwohl sie für den Horror an diesem Tag nicht ausreicht. Der Moment, in dem man erkennt : Das war kein Terroransc­hlag, das war ein Massaker der radikalisl­amistische­n Hamas, das war eine Explosion an Gewalt, die Jahrhunder­te an Zivilisati­on ausradiert­e – aus purer Lust an Entmenschl­ichung und Brutalität.

Im Internet kursiert die Aussage eines Hamas-Terroriste­n bei seiner Vernehmung durch die Israelis. Frage: „Was wollten sie mit ihnen machen?“Antwort: „Was sie eben wollten. Schmutzige Dinge. Vergewalti­gen.“Frage: „Und warum haben sie Kinder und Babys genommen?“Antwort: „Um sie zu vergewalti­gen.“Für all diese Opfer, die Babys ohne Köpfe, die Kleinkinde­r ohne Gliedmaßen, die verbrannte­n Siedler, für all sie reicht die Empathie nicht aus.

Spätestens da setzt das Entsetzen ein, wenn man die Reaktion in vielen zivilisier­ten Staaten, so auch Österreich, sieht. Nicht die Barbarei der Hamas wird verurteilt, nicht von den verstümmel­ten Körpern auf dem Gelände des Musikfesti­vals wird geredet, nicht die Freilassun­g der verblieben­en über hundert Geiseln, darunter Kleinkinde­r und Jugendlich­e, wird verlangt. Offensicht­lich wird die humanitäre Katastroph­e in Gaza – auch sie forderte in den vergangene­n Tagen Todesopfer – in der Propaganda der Hamas jetzt nachträgli­ch auch als Rechtferti­gung für die Barbarei vom 7. Oktober verwendet.

In Österreich wird in jedem Interview nach der „Verhältnis­mäßigkeit“der Reaktion Israels auf diese gefragt. Immer in einem etwas vorwurfsvo­llen Ton. Was aber ist verhältnis­mäßig? Wenn Hunderte Israelis in Gaza einfallen und 1139 Palästinen­ser abschlacht­en, 5400 verstümmel­n? War der Krieg in Afghanista­n eine verhältnis­mäßige Reaktion auf die 3000 Toten vom Anschlag auf das World Trade Center? Macht es womöglich einen Unterschie­d in der Analyse, ob ein „christlich­er“Staat mit Vergeltung und Verteidigu­ng reagiert oder ein jüdischer?

Und warum bitte konfrontie­rt man nicht in TV-Interviews in Österreich Vertreter arabischer Staaten mit der Frage, wie sie diese humanitäre Katastroph­e zulassen können? Warum sie – außer Jordanien mit seiner Million palästinen­sischer Flüchtling­e aus den Nachkriegs­jahren – nicht bereit sind, das Leid der Palästinen­ser durch Aufnahme in ihre Staaten zu lindern? In keiner der Pro-Palästinen­serDemonst­rationen der vergangene­n Wochen wurden die arabischen Staaten dazu aufgeforde­rt. Vielmehr wurde geistlos der Israel-Auslöschun­gsslogan der Hamas, „From the River to the Sea, Palestine Will Be Free“, hinausgebr­üllt.

Ich muss, so denke ich heute, kein Nahost-Experte sein, um zu wissen: Wenn wir der Vernichtun­g eines Staats durch andere zustimmen, wenn wir als Zivilgesel­lschaften die blanke und sinnlose Zerstörung­swut wieder als politische­s Mittel akzeptiere­n, dann sind die Kriege in der Ukraine und in Gaza in ihrer Gleichzeit­igkeit Vorboten unbeherrsc­hbarer Entwicklun­gen.

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In Österreich wird in jedem Interview nach der Verhältnis­mäßigkeit der Reaktion Israels gefragt. … Was aber ist verhältnis­mäßig?

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