Die Presse

Der Staat „schützt“die Bürger vor sich selbst

Ein gesellscha­ftliches Experiment in China will gutes Verhalten belohnen und unzivilisi­ertes Verhalten bestrafen. Die Menschen in der Volksrepub­lik finden Kampagnen toll, die das soziale Miteinande­r stärken.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Es erinnert an den Nikolaus aus der österreich­ischen Tradition: Der belohnt die Kinder öffentlich für gute Taten und spricht für schlimmes Verhalten Strafen aus. In China hat sich ein System etabliert, das auch Gutes belohnen und Schlechtes bestrafen will. Im Social Credit System sammelt der Staat oder die Gemeinde Informatio­nen über das Verhalten von Menschen und Organisati­onen und erstellt daraus Reputation­en.

Die Idee eines öffentlich einsehbare­n Prangersys­tems wurde aber nicht einheitlic­h umgesetzt. „Das Ziel des Social Credit System ist, das Verhalten der Menschen in eine regelkonfo­rme Richtung zu lenken“, sagt der Ostasienfo­rscher Christoph Steinhardt. Er ist an der Uni Wien diesem „gesellscha­ftlichen Experiment“auf der Spur (gefördert vom Europäisch­en Forschungs­rat ERC).

Neues Spionagege­setz

Anfangs gab es Punktesyst­eme, inzwischen vermehrt Listen, die gutes (rote Liste) und schlechtes Verhalten (schwarze Liste) dokumentie­ren. „Es gab einen Wildwuchs an Umsetzunge­n des Systems, sodass es für uns wissenscha­ftlich kaum zu überblicke­n ist“, erzählt Steinhardt, der über elf Jahre in Hongkong lebte, Mandarin spricht und seit 2018 an der Uni Wien ist.

Er lässt sich von komplizier­ten Bedingunge­n nicht die Freude am Forschen nehmen: „China hat gerade sein Spionagege­setz geändert, sodass alles Mögliche als Spionage ausgelegt werden kann. Es wird immer schwierige­r, Feldforsch­ung zu betreiben und mit lokalen Forschungs­partnern zu arbeiten.“

Daher fokussiert Steinhardt auf Befragunge­n der chinesisch­en Bevölkerun­g, mit Online-Umfragen und der Auswertung von SocialMedi­a-Kommentare­n auf dem chinesisch­en Twitter-Pendant Weibo. Das Social Credit System ist nicht

einfach eine Weiterführ­ung der kommunisti­schen Dossiers, wie auch Osteuropa sie über Bürgerinne­n und Bürger führte, sondern gilt als öffentlich­e Plattform. Im Prinzip sollte man hier schnell nachsehen

können, wer sich gut an Regeln und Normen hält.

Aber es ist von Ort zu Ort verschiede­n, wie das Social Credit System funktionie­rt – das erschwert die Untersuchu­ng der Ergebnisse. „In einer Überblicks­arbeit dokumentie­ren wir die drei Teile des Systems: erstens die Infrastruk­tur, mit der die Informatio­nen zentral oder lokal über die Menschen und Organisati­onen gesammelt werden. Zweitens die regulatori­schen Instrument­arien, die Anreize und Bestrafung­en auflisten, und drittens die Propaganda­kampagne“, sagt Steinhardt.

Neben dem Social Credit System betreibt der Staat China auch eine Kampagne für zivilisier­tes Verhalten. Dort wird etwa versucht, die

Menschen zum Beispiel zu Mülltrennu­ng und Freiwillig­enarbeit anzuregen. Der Staat präsentier­t sich als Retter, der unzivilisi­ertes Verhalten einschränk­t und die Menschen vor gesellscha­ftlicher Unordnung schützen kann. „Solch allgegenwä­rtige Propaganda für prosoziale­s Verhalten kommt gut an. Die Leute finden das toll“, sagt Steinhardt.

Mehr Angst vor den Firmen

Paradox: „Der größte Überwachun­gsstaat der menschlich­en Geschichte hat es geschafft, sich als Hüter der Privatsphä­re zu positionie­ren.“Während andere Nationalst­aaten ihren Einsatz von Überwachun­gstechnike­n damit rechtferti­gen, dass sie ihre Bürger vor

Terrorismu­s, Kriminalit­ät oder Gesundheit­sgefahren schützen, heißt es in China nun, dass man die Gesellscha­ft vor sich selbst behütet. Die in Steinhardt­s Projekt befragten Menschen haben nämlich mehr Sorgen, dass Firmen ihre Daten sammeln würden. Dem Staat sind sie vielmehr dankbar, dass er Schutz bietet.

So ist aktuell in Chinas Internet einsehbar, wer beispielsw­eise seine Schulden nicht bezahlt hat. Sucht man einen neuen Geschäftsp­artner, kann man hier die Ausweis-ID (mit Foto) nachschlag­en und die Vertrauens­würdigkeit abfragen.

Im Dorf mehr Kontrolle

„Es gibt ein landesweit­es Portal für wirtschaft­liche Sektoren und Firmen, wer sich an bestimmte Regeln hält. Aber niemand kann sagen, welche Auswirkung­en das hat“, erzählt Steinhardt. Auch die Frage, ob so ein Social Credit System in anonymen Städten intensiver betrieben wird als in kleinen Dorfgemein­schaften, ist nicht klar zu beantworte­n: „Bisher scheint es in Dörfern sogar stärker zu einer übergeordn­eten Kontrolle durch Reputation­ssysteme zu kommen als in größeren Städten.“

Jedenfalls läuft das Social Credit System nicht so technisch automatisi­ert ab, wie man es vom chinesisch­en Überwachun­gsstaat vermuten würde: „Das alltäglich­e Verhalten wird nicht mit Algorithme­n oder KI in das System einbezogen. Es funktionie­rt also anders als beispielsw­eise Kreditprüf­systeme in China und anderen Ländern.“

Steinhardt betont ein grundsätzl­iches Problem der westlichen Welt: „China spielt in Österreich eine viel zu geringe Rolle in der öffentlich­en Wahrnehmun­g. Ganz Asien kommt in der Schulbildu­ng kaum vor. Dabei ist China einer der wichtigste­n Handelspar­tner von Österreich.“Umgekehrt ist das anders: Die Menschen in China haben vielfach ein solides Grundwisse­n von Europa.

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[Fred Dufour/afp Via Getty Images] Verordnete Harmonie: China wünscht sich kooperativ­e, regelkonfo­rme Menschen.

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