„Das werde ich dem Papa sagen“
Gebote und Verbote scheinen passé. Immer mehr Menschen fühlen sich bemüßigt, Verordnungen nicht mehr zu befolgen. Gleichzeitig sehnen sie sich nach einem autoritären Staat. Wie geht das zusammen? Und was hat das mit alten Fotos zu tun?
‘‘ Was Kinder im Beisein ihrer Eltern alles aufführen dürfen, ohne dass nur ein einziges Wort der Ermahnung fällt!
Auf alten Familienbildern blicken einem oft seltsam fremde und ernste Gesichter entgegen: der Vater gebieterisch, die Mutter mahnend und duldend zugleich, die Kinder blass bis freudlos oder bedrückt. Die befremdliche Aura ist Resultat einer Inszenierung des Fotografen, aber auch Ausdruck einer zeitgebundenen Autorität, die sich im Bild verfestigt. Früher war jeder Erwachsene per se autoritär, Eltern, Lehrer, Pfarrer, Polizisten, der Schaffner im Zug, auch der Fotograf. Im Prinzip ist Fotografieren immer noch noch ein autoritärer Akt, bei dem einer bestimmt, der andere sich unterwirft. Die, die aufs Bild kommen sollen, haben den Anweisungen zu folgen. Welche Sitzhaltung sie einnehmen, wohin und wie sie blicken sollen, um einen bestimmten Eindruck zu hinterlassen. Das war im Fotostudio immer ein bürgerlicher Eindruck, entsprechend „ständisch“präsentierte man sich im Sonntagsanzug.
Dass Menschen auf alten Fotografien so ernst dreinblicken, hat nicht nur mit den früher viel längeren Belichtungszeiten zu tun, die absolute Bewegungslosigkeit und starre Mimik erforderten. Der „würdevolle“Ausdruck, den das Objekt einnehmen sollte, und die Tatsache, dass die damals noch aufwendigen und kostspieligen Bilder zum Andenken, also gleichsam für die Ewigkeit, gemacht wurden, erzeugten den bekannten „autoritären Blick“. Kinder verloren dabei innerhalb von Sekunden ihre Natürlichkeit. Ruhig sitzen war das Mindeste, was ihnen abverlangt wurde – es sollte ja ein ordentliches Bild werden und einen später immer erinnern.
Ich weiß noch genau, wie unangenehm mir das Fotografieren bei der Erstkommunion war. 16 Buben im Anzug, 15 Mädchen im weißen Kleid, die Erstkommunionkerze sichtbar in der Hand. Wir hatten auf den Stufen unserer Kirche Aufstellung genommen, mussten minutenlang warten, was uns endlos vorkam, und während der ganzen Zeit ernst und ordentlich zum Fotografen sehen. Nur einer hat im entscheidenden Augenblick den Kopf woanders, er blickt zu Boden: ich.
„Damit hast du deinen Mitschülern die schöne Erinnerung an diesen Tag zerstört.“So oder so ähnlich klangen die strengen Worte meiner Lehrerin. Ich schämte mich. Auch vom Vater zu Hause, ebenfalls Lehrer, wurde ich gerügt. Was ich den anderen da angetan hätte! Das Bild könne man nun vergessen! Ob mir damals bewusst war, dass ich mit meiner Fehlleistung die Autorität des Fotografen und die der Schule untergraben hatte? Ich hatte nicht absichtlich weggesehen. Aber das Fotografiertwerden hatte mich genervt, auch das ganze künstliche Getue, das „Feierliche“dieses Tages. Meine offenbare Abneigung, meine gelangweilte Haltung wurde im Bild sichtbar, sie stört bis heute das Andenken daran. Aber Ausdruck einer Autoritätsverweigerung war mein abgewandter Blick nicht.
Subversiv wäre anders gewesen, dann hätte ich es wie Albert Einstein gemacht. Aber das wäre undenkbar gewesen. Ich war ein Kind, das einsah, dass den Anordnungen von Erwachsenen Folge zu leisten war. Das Gefühl für Autorität hat auch mit Vernunft und Verständnis für das Richtige zu tun: zu wissen, wo die Grenzen sind und was sich in einem zivilisierten Umgang unter Menschen gehört. Das funktioniert nur, wenn man bereit ist, Gesetze zu befolgen und darauf bedacht zu sein, dass sie befolgt werden. Nichts ärgert mich mehr als ungezügeltes Laisser-faire, mit dem sich rücksichtslose Zeitgenossen ihr Recht auf persönliche Freiheit zu behaupten meinen. Dieses Bestehen auf „Freiheit“erscheint mir nicht weniger autoritär als jegliches Lawand-Order-Gehabe.
Was sich gehörte, vielmehr nicht gehörte, darauf wurde meine Generation noch in Elternhaus und Schule entsprechend hingewiesen, auch wenn das allzu oft übertriebene Maßregelungen waren. „Hände aus dem Hosensack!“, dröhnte es in bestimmendem Singsang vom Treppenabsatz auf mich herunter, als ich unsere Volksschule eines Morgens etwas zu lässig betreten hatte. Das passierte mir so schnell nicht wieder. Auch nicht, dass ich, wie ich das einmal gedankenlos tat, eine Straße nicht auf, sondern neben dem Zebrastreifen überquerte. „Das werden wir dem Papa sagen!“, bekam ich aus dem heruntergekurbelten Fenster von zwei Lehrerinnen, Kolleginnen
meines Vaters, zu hören, die vor mir abbremsten. Und ein einziges Mal, da war ich zehn oder elf, kam ich auf die dreiste Idee, „freihändig“mit dem Rad zu fahren. Schon nach wenigen Metern winkte mich ein Polizist an den Straßenrand.
Heute, ein halbes Leben später, amüsiert es mich oft, wenn ich beobachte, was Kinder im Beisein ihrer Eltern alles aufführen dürfen, ohne dass nur ein einziges Wort der Ermahnung fällt. Mit „antiautoritär“hat das aber nichts zu tun, es ist vielmehr eine erschreckende Gleichgültigkeit vieler Erziehungsberechtigter, die weder ihre Kinder im Blick noch ein Gefühl dafür zu haben scheinen, ihnen zu vermitteln, was man besser nicht tun sollte. Aus ihren Kindern sollen ja einmal soziale Wesen werden.
Aber wie ist das mit Erwachsenen, die sich selbst keine Regeln mehr auferlegen wollen? Spätestens die Coronapandemie hat gezeigt, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung ein Problem mit Autorität hat. Und das ist insofern merkwürdig, als jene, die sich an keine staatlichen Vorgaben mehr zu halten bereit sind und sich über die Autorität des Staates einfach hinwegsetzen, ausgerechnet autoritären Parteien ihre Stimme geben wollen. Wie geht das zusammen?
Die Coronaleugner, die ihren Protest so geballt auf die Straße trugen, argumentieren bis heute, dass eine vernünftige, lebensrettende Maßnahme wie das Impfen ein nicht akzeptabler Eingriff in ihre „Souveränität“wäre. Sie haben aber kein Problem damit, wenn autoritäre Politiker ihnen bestimmte Freiheiten nehmen und mit der liberalen Demokratie aufräumen wollen. Wenn im Bierzelt gegen Journalisten und Wissenschaftler hergezogen, wenn davon geträumt wird, freie Medien an die Kandare zu nehmen und Politiker anderer Parteien zur Fahndung auszuschreiben, jubeln jene, denen vor Kurzem noch jede staatliche Maßnahme gegen die Pandemie ein nicht gerechtfertigter autoritärer Eingriff in ihr Leben schien. Weil sie sich von der Politik „manipuliert“fühlten, haben