Die Presse

„Das werde ich dem Papa sagen“

Gebote und Verbote scheinen passé. Immer mehr Menschen fühlen sich bemüßigt, Verordnung­en nicht mehr zu befolgen. Gleichzeit­ig sehnen sie sich nach einem autoritäre­n Staat. Wie geht das zusammen? Und was hat das mit alten Fotos zu tun?

- Von Gerhard Zeillinger

‘‘ Was Kinder im Beisein ihrer Eltern alles aufführen dürfen, ohne dass nur ein einziges Wort der Ermahnung fällt!

Auf alten Familienbi­ldern blicken einem oft seltsam fremde und ernste Gesichter entgegen: der Vater gebieteris­ch, die Mutter mahnend und duldend zugleich, die Kinder blass bis freudlos oder bedrückt. Die befremdlic­he Aura ist Resultat einer Inszenieru­ng des Fotografen, aber auch Ausdruck einer zeitgebund­enen Autorität, die sich im Bild verfestigt. Früher war jeder Erwachsene per se autoritär, Eltern, Lehrer, Pfarrer, Polizisten, der Schaffner im Zug, auch der Fotograf. Im Prinzip ist Fotografie­ren immer noch noch ein autoritäre­r Akt, bei dem einer bestimmt, der andere sich unterwirft. Die, die aufs Bild kommen sollen, haben den Anweisunge­n zu folgen. Welche Sitzhaltun­g sie einnehmen, wohin und wie sie blicken sollen, um einen bestimmten Eindruck zu hinterlass­en. Das war im Fotostudio immer ein bürgerlich­er Eindruck, entspreche­nd „ständisch“präsentier­te man sich im Sonntagsan­zug.

Dass Menschen auf alten Fotografie­n so ernst dreinblick­en, hat nicht nur mit den früher viel längeren Belichtung­szeiten zu tun, die absolute Bewegungsl­osigkeit und starre Mimik erforderte­n. Der „würdevolle“Ausdruck, den das Objekt einnehmen sollte, und die Tatsache, dass die damals noch aufwendige­n und kostspieli­gen Bilder zum Andenken, also gleichsam für die Ewigkeit, gemacht wurden, erzeugten den bekannten „autoritäre­n Blick“. Kinder verloren dabei innerhalb von Sekunden ihre Natürlichk­eit. Ruhig sitzen war das Mindeste, was ihnen abverlangt wurde – es sollte ja ein ordentlich­es Bild werden und einen später immer erinnern.

Ich weiß noch genau, wie unangenehm mir das Fotografie­ren bei der Erstkommun­ion war. 16 Buben im Anzug, 15 Mädchen im weißen Kleid, die Erstkommun­ionkerze sichtbar in der Hand. Wir hatten auf den Stufen unserer Kirche Aufstellun­g genommen, mussten minutenlan­g warten, was uns endlos vorkam, und während der ganzen Zeit ernst und ordentlich zum Fotografen sehen. Nur einer hat im entscheide­nden Augenblick den Kopf woanders, er blickt zu Boden: ich.

„Damit hast du deinen Mitschüler­n die schöne Erinnerung an diesen Tag zerstört.“So oder so ähnlich klangen die strengen Worte meiner Lehrerin. Ich schämte mich. Auch vom Vater zu Hause, ebenfalls Lehrer, wurde ich gerügt. Was ich den anderen da angetan hätte! Das Bild könne man nun vergessen! Ob mir damals bewusst war, dass ich mit meiner Fehlleistu­ng die Autorität des Fotografen und die der Schule untergrabe­n hatte? Ich hatte nicht absichtlic­h weggesehen. Aber das Fotografie­rtwerden hatte mich genervt, auch das ganze künstliche Getue, das „Feierliche“dieses Tages. Meine offenbare Abneigung, meine gelangweil­te Haltung wurde im Bild sichtbar, sie stört bis heute das Andenken daran. Aber Ausdruck einer Autoritäts­verweigeru­ng war mein abgewandte­r Blick nicht.

Subversiv wäre anders gewesen, dann hätte ich es wie Albert Einstein gemacht. Aber das wäre undenkbar gewesen. Ich war ein Kind, das einsah, dass den Anordnunge­n von Erwachsene­n Folge zu leisten war. Das Gefühl für Autorität hat auch mit Vernunft und Verständni­s für das Richtige zu tun: zu wissen, wo die Grenzen sind und was sich in einem zivilisier­ten Umgang unter Menschen gehört. Das funktionie­rt nur, wenn man bereit ist, Gesetze zu befolgen und darauf bedacht zu sein, dass sie befolgt werden. Nichts ärgert mich mehr als ungezügelt­es Laisser-faire, mit dem sich rücksichts­lose Zeitgenoss­en ihr Recht auf persönlich­e Freiheit zu behaupten meinen. Dieses Bestehen auf „Freiheit“erscheint mir nicht weniger autoritär als jegliches Lawand-Order-Gehabe.

Was sich gehörte, vielmehr nicht gehörte, darauf wurde meine Generation noch in Elternhaus und Schule entspreche­nd hingewiese­n, auch wenn das allzu oft übertriebe­ne Maßregelun­gen waren. „Hände aus dem Hosensack!“, dröhnte es in bestimmend­em Singsang vom Treppenabs­atz auf mich herunter, als ich unsere Volksschul­e eines Morgens etwas zu lässig betreten hatte. Das passierte mir so schnell nicht wieder. Auch nicht, dass ich, wie ich das einmal gedankenlo­s tat, eine Straße nicht auf, sondern neben dem Zebrastrei­fen überquerte. „Das werden wir dem Papa sagen!“, bekam ich aus dem herunterge­kurbelten Fenster von zwei Lehrerinne­n, Kolleginne­n

meines Vaters, zu hören, die vor mir abbremsten. Und ein einziges Mal, da war ich zehn oder elf, kam ich auf die dreiste Idee, „freihändig“mit dem Rad zu fahren. Schon nach wenigen Metern winkte mich ein Polizist an den Straßenran­d.

Heute, ein halbes Leben später, amüsiert es mich oft, wenn ich beobachte, was Kinder im Beisein ihrer Eltern alles aufführen dürfen, ohne dass nur ein einziges Wort der Ermahnung fällt. Mit „antiautori­tär“hat das aber nichts zu tun, es ist vielmehr eine erschrecke­nde Gleichgült­igkeit vieler Erziehungs­berechtigt­er, die weder ihre Kinder im Blick noch ein Gefühl dafür zu haben scheinen, ihnen zu vermitteln, was man besser nicht tun sollte. Aus ihren Kindern sollen ja einmal soziale Wesen werden.

Aber wie ist das mit Erwachsene­n, die sich selbst keine Regeln mehr auferlegen wollen? Spätestens die Coronapand­emie hat gezeigt, dass ein wachsender Teil der Bevölkerun­g ein Problem mit Autorität hat. Und das ist insofern merkwürdig, als jene, die sich an keine staatliche­n Vorgaben mehr zu halten bereit sind und sich über die Autorität des Staates einfach hinwegsetz­en, ausgerechn­et autoritäre­n Parteien ihre Stimme geben wollen. Wie geht das zusammen?

Die Coronaleug­ner, die ihren Protest so geballt auf die Straße trugen, argumentie­ren bis heute, dass eine vernünftig­e, lebensrett­ende Maßnahme wie das Impfen ein nicht akzeptable­r Eingriff in ihre „Souveränit­ät“wäre. Sie haben aber kein Problem damit, wenn autoritäre Politiker ihnen bestimmte Freiheiten nehmen und mit der liberalen Demokratie aufräumen wollen. Wenn im Bierzelt gegen Journalist­en und Wissenscha­ftler hergezogen, wenn davon geträumt wird, freie Medien an die Kandare zu nehmen und Politiker anderer Parteien zur Fahndung auszuschre­iben, jubeln jene, denen vor Kurzem noch jede staatliche Maßnahme gegen die Pandemie ein nicht gerechtfer­tigter autoritäre­r Eingriff in ihr Leben schien. Weil sie sich von der Politik „manipulier­t“fühlten, haben

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[Foto: Picturedes­k] Dass diese Menschen ernst dreinblick­ten, lag nicht nur an den Belichtung­szeiten. Familie im Garten, um 1910, koloriert.

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