Wir wollten nicht aus dem Land geprügelt werden
In Lene Albrechts Roman „Weiße Flecken“reist eine junge Frau von Deutschland nach Togo, um dort Interviews über Flucht und Migration zu führen.
Im Jahr 1896 fand in Berlin die „Erste Deutsche Kolonialausstellung“statt. In der integrierten Völkerschau wurden 106 Menschen aus deutschen Kolonien exotistisch inszeniert. Sie mussten etwa vor Hütten vermeintlich typischen Alltagsbeschäftigungen nachgehen, Tänze oder Kriegsspiele aufführen. Völkerschauen erzählen folglich weniger über „die anderen“, als dass sie Vorstellungen vom anderen vorführen. Solches und Ähnliches konnte man sehen, wenn man 1896 das Ausstellungsgelände betrat ; der Weg führte durch „Kamerun-“und „Togodorf“– das heutige Togo war ab 1894 deutsche Kolonie.
Lene Albrecht erzählt in ihrem zweiten Roman, „Weiße Flecken“, von der Reise einer jungen Frau namens Ellen aus Deutschland nach Togo in den 2020ern, um Interviews zu führen über „Fluchtursachen und Migration und wie die Rückstände der deutschen Kolonialherrschaft damit verbunden sind“. Sie macht Spuren des Kolonialismus in der Architektur und Nutzungsgeschichte von Gebäuden sichtbar, in Vegetation und Alltagskultur: Die in Togo nicht einheimische Mango etwa wurde aus der Kolonie Kamerun importiert und wird lokal „Camaro“genannt, der Buchbestand einer Bibliothek umfasst ausschließlich Spenden aus deutschen und französischen Büchereien.
Wenn von den Menschen in Togo erzählt wird, dann in Form der Gespräche, die Ellen führt. Diese Passagen präsentiert Albrecht in direkter Rede in der Ich-Form, sodass splitterhafte Lebenseinblicke entstehen: so etwa von Amina, die sich mit ihrer Familie nach Jahren in Deutschland unter der Last der drohenden Abschiebung für eine Rückkehr nach Togo entschieden hat. „Wir sind nicht abgeschoben worden und trotzdem nicht freiwillig gegangen“, erzählt sie, „wir wollten selbst entscheiden, anstatt aus dem Land geprügelt zu werden.“
Die Interviews führt Ellen im Auftrag des Ministeriums für Migration und Flucht, das allerdings nicht dafür bekannt ist „gute Lösungen zu finden“für geflüchtete und migrierte Menschen; der beste Migrant ist immer noch der, der gar nicht erst kommt, so ähnlich resümiert Ellen einmal.
Lene Albrecht hat ihre Erzähltechnik klug gewählt und viele Verweise auf Topoi der Reiseliteratur oder kulturwissenschaftliche Kenntnisse über Debatten rund um Postund Neokolonialismus unprätentiös in den Roman eingearbeitet. Eine Figur mokiert sich über die „idiotische“Vorstellung, man könne sich auf Reisen selbst finden – ein langlebiger Topos reiseliterarischen Schreibens.
Anhand eines Deutschen, der als „Freiwilliger“in einem christlichen Waisenheim arbeitet, setzt Albrecht den White-SaviourKomplex in den Text. Wie problematisch dieser sein kann, spricht ein Togoer an: Es sei „eine Zeitlang lukrativer gewesen, eine Organisation zu gründen und um Spenden zu werben, als in ein eigenes Geschäft zu investieren“.
Im letzten Drittel des Romans, zurück in Deutschland, begibt sich Ellen – hier dürften Parallelen zur Familiengeschichte der Autorin bestehen – auf Spurensuche ihrer afropanamaischen Urgroßmutter, die um 1900 mit ihrem deutschen Vater nach Hamburg kam. Als Schwarze Frau verbrannte sie während des aufkommenden Nationalsozialismus alle Papiere über ihre Herkunft, Informationen über ihr Leben sind also kaum auffindbar.
„Weiße Flecken“erzählt deutsche Gewaltgeschichte und Folgen (neo-)kolonialistischer Praktiken, und man merkt, wie umfassend sich die Autorin mit den Themen ihres Romans sowie mit deren Darstellung befasst hat. Ein informatives Buch, komponiert im Bewusstsein unvollständigen Wissens im Erzählen über „die anderen“.