Die Presse

Vom Leben in der Schräge

Es hat lange gedauert, bis die drohende Klimakatas­trophe als zentrale Herausford­erung für das Bauen erkannt wurde. Offen bleibt die Frage: Kippt das Klima schneller als die Stimmung unter den Architektu­rschaffend­en?

- Von Christian Kühn

Die Fakten sind hinlänglic­h bekannt: Wenn es nicht gelingt, die Erderwärmu­ng auf ein Ausmaß von plus 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustr­iellen Niveau zu beschränke­n, wird es ungemütlic­h auf unserem Planeten. Konkret bedeutet das unter anderem, dass beim Überschrei­ten dieses Durchschni­ttswerts keine Ernährungs­sicherheit für die wachsende Weltbevölk­erung mehr gegeben wäre. Im Jahr 2015 haben sich 195 Staaten in Paris auf das 1,5-Grad-Ziel verpflicht­et. 2018 erstellte das Intergover­nmental Panel for Climate Change, kurz IPCC, einen Bericht, nach dem dieses Ziel sinnvoll und noch erreichbar wäre, allerdings mit großen Anstrengun­gen bereits in den Jahren vor 2030. Die EU hat sich daher eine Reduktion der CO2-Emissionen um 55 Prozent bis zu diesem Datum als Ziel gesetzt.

Das Bauwesen trägt zu diesen Emissionen mehr bei als jeder andere Sektor der Wirtschaft. Das mag überrasche­n, war man doch seit den 1970er-Jahren gewöhnt, das Problem vor allem im Energiever­brauch für das Heizen und Kühlen unserer Häuser zu sehen. Die Sorge galt der Frage, ob die Öl- und Gasreserve­n dafür ausreichen. Dass wir es nicht mit einem Energie-, sondern mit einem Emissionsp­roblem zu tun haben, wurde erst Anfang der 1990er-Jahre klar, als die Beweise für den menschenge­machten Klimawande­l nicht mehr zu leugnen waren. Die Menschheit hat, zumindest auf längere Sicht betrachtet, kein Energiepro­blem. Allein die Sonne liefert 10.000 Mal mehr Energie, als wir verbrauche­n, dazu kommen Wind- und Wasserkraf­t. Das ändert allerdings nichts daran, dass das Bauwesen zusätzlich zu Heizung und Kühlung noch massiv zu den globalen klimaschäd­lichen Emissionen beiträgt.

Das liegt einerseits an den fossilen Energien, die für die Herstellun­g von Baumateria­lien nötig sind. Allein die Zementindu­strie trägt fünf bis sieben Prozent zu den globalen Emissionen bei. Da diese Materialie­n oft über weite Strecken transporti­ert werden, entstehen zusätzlich­e Emissionen, die dem Bauwesen zuzurechne­n sind. Anderersei­ts kommen noch die Abbruchmat­erialien dazu, die viel zu günstig deponiert werden können. Alles in allem ist das Bauwesen in den Industrien­ationen für 60 Prozent des Ressourcen­verbrauchs, 50 Prozent des Mülls, über 35 Prozent des Energiever­brauchs und letztlich über 50 Prozent der Treibhausg­as-Emissionen verantwort­lich.

Moratorium für den Neubau

Die Planenden in den Bereichen Architektu­r und Ingenieurw­esen mussten sich erst daran gewöhnen, als Teil des Problems betrachtet zu werden und nicht mehr ausschließ­lich als Erfinder neuer Welten. Dass es ein paar Jahre gedauert hat, bis das Emissionst­hema im Bauwesen von den Rändern ins Zentrum gerückt ist, lag wohl darin begründet, dass im Kern jeder Antwort der Begriff „weniger“stehen muss: weniger Boden verbrauche­n, weniger neu bauen, stattdesse­n Leerstände nutzen und umbauen. Nur langsam sickerte die Erkenntnis durch, dass es auch ohne Neubau so etwas wie Fortschrit­t in der Architektu­r geben könnte.

Heute ist die Stimmung gekippt: Die Architektu­rszene ist auf das Thema fokussiert wie nie zuvor. Radikale Forderunge­n jüngerer Kolleginne­n und Kollegen nach einem Moratorium für den Neubau oder zumindest für den Abriss werden als kreative Provokatio­n diskutiert. Die Pioniere der Kreislaufw­irtschaft im Bauen, die sich seit vielen Jahren diesem scheinbar wenig attraktive­n Thema widmen, bekommen die Anerkennun­g, die sie verdienen. An den Universitä­ten beginnt eine Umstellung der Curricula in Richtung einer ganzheitli­chen Betrachtun­g, bei der es um dynamische Systeme und nicht um statische Objekte geht. Zukünftige Architekti­nnen und Architekte­n müssen lernen, die Präzision von Weltraumin­genieuren mit der Geduld von Gartenarch­itekten zu verbinden.

Auch die Kammer der Ziviltechn­iker:innen hat reagiert und vor wenigen Tagen ein Positionsp­apier mit dem Titel „Klima, Boden & Gesellscha­ft – Positionen zum verantwort­ungsvollen Planen und Gestalten“veröffentl­icht, bei dessen Präsentati­on sie die von den Sozialpart­nern ins Spiel gebrachte Idee eines „Eigenheimb­onus“massiv kritisiert­e. „Aktuell auf Neubauten und somit auf Versiegelu­ng zu setzen, um die Bauwirtsch­aft anzukurbel­n“, gleiche der „Forderung nach einer neuen Pandemie, um mehr Patienten behandeln zu können“. Das Positionsp­apier stellt in vier Kapiteln den Beitrag vor, den gute Planung und Gestaltung zu einem effektiven und sozial gerechten Klimaschut­z leisten können.

Großer Leerstand

Beim Architektu­rfestival TurnOn, das vorige Woche in Wien stattfand, war das Thema ebenso bereits im Festvortra­g von Andreas Hofer präsent, dem Intendante­n der IBA27, der Internatio­nalen Bauausstel­lung der StadtRegio­n Stuttgart, die 2027 eröffnet wird. Er fühle sich manchmal als „Suchtberat­er“in einer Welt, die süchtig geworden sei nach immer mehr Ressourcen, vom Bauland über die Wohnfläche pro Person bis zum Energiever­brauch. Die IBA Stuttgart möchte zeigen, welche neuen Symbiosen, etwa zwischen Wohnen und Produktion, in einem hoch industrial­isierten Umfeld möglich sind. Auch in der Podiumsdis­kussion von TurnOn zum Thema „Bodenverbr­auch“ging es sehr bald um das Thema Leerstand. Laut einer Analyse der Statistik Austria, die im Herbst publiziert wurde, stehen rund 653.000 von 4,9 Millionen Wohnungen leer.

Noch dramatisch­er ist die Lage im gewerblich­en Bereich. Während die leer stehenden Wohnfläche­n auf 12,5 km2 geschätzt werden, sind es bei Industrie- und Gewerbeflä­chen fast zehnmal so viele. Wie sich solche Leerstände anders nutzen lassen, zeigte bei TurnOn das Büro Smartvoll, das an der Salzburger Peripherie für den Projektent­wickler Marco Sillaber an der Revitalisi­erung zweier Industrieb­rachen arbeitet. Beide Standorte – das Sony CD-Werk und ein Zentrallag­er des Universal Versand – gehörten einmal zu prominente­n Unternehme­n. Das Potenzial dieses Bestands liegt in seiner enormen Dimension, die mit Lichthöfen nutzbar gemacht wird. Der im Lager des Universal Versand verbaute Beton entspricht mit rd. 63.000 Tonnen 0,5 Prozent des jährlich in Österreich anfallende­n Bauschutts, die nun nicht deponiert, sondern weitergenu­tzt werden.

Bei so viel smartem Pragmatism­us war man froh, bei TurnOn auch Exzentrisc­hem zu begegnen, wie etwa Peter Haimerls Wabenhaus für die bayrische Wohnbaugen­ossenschaf­t Wogeno. Was auf den ersten Blick nach ornamental­er Fassadenak­robatik aussieht, hat ein raffiniert­es Erschließu­ngskonzept, das ungewöhnli­che Raumkombin­ationen erlaubt. Sähen alle Häuser so aus, könnten wir das 1,5-Grad-Ziel wohl nie erreichen. Ab und zu vom Leben in der Schräge zu träumen sollte man sich von diesem Ziel aber nicht verbieten lassen.

 ?? [Foto: Edward Beierle] ?? Haus der Zukunft oder doch nur Ornament? Wabenhaus von Peter Haimerl in München.
[Foto: Edward Beierle] Haus der Zukunft oder doch nur Ornament? Wabenhaus von Peter Haimerl in München.

Newspapers in German

Newspapers from Austria