Die Presse

„Det gemüthlich­e Wien“

- Julius Rodenberg

Wien, 3. März 1874. Von all meinen Berliner Freunden, die mich während der Wiener Weltausste­llung besuchen wollten, ist nur Einer, Theodor Mizzerich, gekommen. Den Grund unserer Freundscha­ft hatten wir bei verschiede­nen Diners und Soupers gelegt. Denn die Jahre von 1871 bis 1873 waren gewaltige Jahre für Diners und Soupers in Berlin, und man weiß es ja, wie zärtlich der Mensch bei solchen Gelegenhei­ten werden kann! Theodor Mizzerich war ein guter Esser, ein tapferer Trinker. Er war ein blonder Jüngling von schmächtig­er, behender Gestalt, hatte blaue Augen, trug steife Vatermörde­r und stammte mütterlich­erseits aus der Uckermark.

„Da bin ich!“sagte er eines Morgens im Mai vorigen Jahres, als er, mit einem Spazierstö­ckchen in der einen Hand, einer Reisetasch­e von Wachstuch in der andern und einem Operngucke­r im ledernen Futteral über der linken Schulter zu mir in die Stube trat, und da war er. Meine Freude kann man sich vorstellen. „Die Woche fängt gut an“, dachte ich bei mir, indem ich ihn so vor mir stehen sah, gleichsam als Vorboten aller derer, die – nein! nicht glückliche­rweise – nicht gekommen sind. „Alter Junge!“rief er. „Ne, dies Wien! Et is doch eene gemüthlich­e Stadt!“In Momenten des Affectes, wenn es ihm recht wohl oder recht übel ums Herz war, machte sich dieses nämlich mit Vorliebe Luft in den Heimatklän­gen von den Ufern der Spree und der Panke. „Du, die Wohnung gefällt mir. Et is ’ne propp’re Wohnung und s o gemüthlich!“Er hatte sich’s nun einmal in den Kopf gesetzt, Alles in Wien gemüthlich zu finden, und machte Miene, seine schwarze Wachstucht­asche abzulegen. „O“, fiel ich ihm rasch in die Rede – denn ich bemerkte, daß Gefahr im Verzuge sei – „was uns betrifft, so gibt es hier noch Dutzende von gemüthlich­en Wohnungen, und wenn ich dir rathen sollte …“Doch er durchschau­te mich. Denn schlau war er – ich sag’s euch! „Ne“, rief er, weit weg von hier geh’ ich nicht; ich bin deinetwege­n gekommen …“

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