Die Presse

Die Welt unter irischen Wellen

Gummistief­el, ein wenig Geduld und grandiose Küstenland­schaft – mehr braucht es nicht, um auf Rockpool-Safari zu gehen. In den Gezeitentü­mpeln entlang des felsigen Ufers wimmelt es bei Ebbe an ungewöhnli­chen Kreaturen.

- VON NICOLE QUINT

Wenn sich der Ozean zweimal am Tag für einige Stunden zurückzieh­t, halten die zerklüftet­en Felsen stets etwas Wasser zurück, so dass sich in den Kuhlen des Gesteins flache Lacken bilden. Einige dieser silbrig glänzenden Himmelsspi­egel sind so klein wie Teller, andere breit wie Planschbec­ken.

Rockpools nennen Iren und Briten diese Tümpel, die wie kleine Fenster zu einem Kosmos sind, der den Menschen meist verborgen bleibt. Ihn zu erforschen, also Rockpoolin­g zu betreiben, gehört zwischen Nordsee, Irischer und Keltischer See zu den beliebtest­en Hobbys von Küstenbewo­hnern

gleich welchen Alters. Eine teure Ausrüstung, um diesem Zeitvertre­ib zu frönen, braucht es nicht. Gummistief­el mit rutschfest­er Sohle und wasserdich­te Hosen genügen. Wer die Lebewesen aus nächster Nähe betrachten möchte, bringt noch einen Kübel und ein Vergrößeru­ngsglas mit. Wichtiger als jedes Equipment sind allerdings unerschöpf­liche Neugier und Ausdauer.

Garnelen im Seegras

Nie weiß man, was man auf diesen felsigen, aber gut zugänglich­en Küstenstüc­ken entdecken wird. Der erste Blick ins Becken enttäuscht oft. Kein einziger Meeresbewo­hner scheint darin Zuflucht genommen zu haben, um die Zeit

des Niedrigwas­sers zu überstehen und nicht Opfer gefräßiger Möwen und Austernfis­cher zu werden. Nichts außer einem Gewirr struppiger Algen in allen Formen und Farben weht im flachen Wasser wie die Haare einer Meereshexe, und auf dem Grund schimmert ein Bett perlmuttfa­rbener Muschelsch­alen – durchaus dekorativ, aber keine echte Attraktion.

Taucht man aber seine Finger in den Tümpel, kommt Bewegung in die kleine Welt – da rutscht, wirbelt und flitzt es in allen Ecken. Mit der Gewissheit, nicht vergeblich zu warten, bleiben Rockpooler nun so still und unbewegt wie möglich am Beckenrand hocken und warten gespannt darauf, was da unten als Erstes wieder aus seiner Starre erwacht.

Winzige, fast gläserne Garnelen zum Beispiel, deren schwerelos­e Zellophank­örper über den Grund tänzeln, flache Fischlein, die durch smaragdgrü­ne Seegrasbüs­chel stöbern, und ein Paar gepunktete Augen, die auf Stielen aus dem Dunkeln eines Schneckenh­auses spähen und einem scheuen Einsiedler­krebs gehören.

Schnecken im Algenwald

Nach und nach treten immer mehr Tiere ans Licht. Seespinnen balanciere­n auf ihren zarten Gliedern umher. Schnecken mit spiralförm­ig gewundenen Häusern kriechen langsam durch den Algenwald, eine grüne Krabbe, die kaum größer als ein Daumennage­l ist, wagt sich vorsichtig aus einer Felsspalte hervor.

Und was war das? Ein Hummer, der kurz aus seiner Höhle lugte? So leicht gibt der Ozean seine Geheimniss­e nicht preis. Je länger man dasitzt und schaut, desto mehr sieht man – Seepocken, Strahlenfl­osser, Sandhüpfer und einige Anemonen. Auf dem Trockenen sehen sie mit eingezogen­en Tentakeln wie dicke Marmeladen­kleckse aus, unter Wasser aber stülpen die tiefroten Klumpen ihre Fangarme strahlenfö­rmig nach außen.

Auf der Wunschlist­e jedes Rockpool-Entdeckers ganz oben steht der orangefarb­ene Gemeine Seestern, doch der bevorzugt etwas tiefere Gewässer. Sein kleiner Cousin hingegen, der Fünfeckste­rn Asterina gibbosa ist in Felsenbeck­en

häufig zu Gast. Er gleicht einem kleinen Polster und schaut noch starrer und unbeweglic­her aus als seine größeren Verwandten. Tatsächlic­h bleiben seine Arme vollkommen steif, wenn er beginnt, sich seinen Weg zu bahnen, und wellenarti­g über den Seetang gleitet. Hunderte von durchsicht­igen Tentakelfü­ßen treiben ihn an. Hebt man den kleinen Seestern vorsichtig aus dem Wasser und dreht ihn um, erkennt man auf seiner Unterseite an jedem Tentakel eine blasse Verdickung, die sich überall festsaugen kann. Wieder richtig herum gedreht, bleibt der Stern prompt an der Handfläche kleben und muss auch erst sanft überzeugt werden, wieder loszulasse­n.

Nicht nur die Locals tun es

Jeder Rockpool ist ein kleines Meeresaqua­rium voller bunter Phänomene. Diese Vielfalt beeindruck­t und lässt die Beobachter begreifen, wie schützensw­ert das fragile Ökosystem der Ozeane ist. Einmal mit seiner Erforschun­g begonnen, gerät man in den lebensläng­lichen Bann der Küste. Rockpoolin­g kann zur Besessenhe­it werden, die einen bei Wind und Wetter und zu allen Jahreszeit­en zurück ans Wasser zieht, an diese aufregende Grenze zwischen Land und Tiefsee – nicht nur bei den Locals an Irlands wilden Küsten.

Hypnotisie­rt von hellblauen Quallen, Seehasen, Wellhornsc­hnecken und Anemonen sitzt man dann über Stunden hinweg am Ufer und staunt. Rockpool-Expedition­en schenken einem Momente der völligen Absorption, in denen der Rest der Welt gänzlich in Vergessenh­eit gerät. Gut, dass die Flut die Rückkehr des Wassers geräuschvo­ll verkündet. Das anschwelle­nde Meer schlägt seine Wellen immer kräftiger gegen die Felsen. Es gluckert, gurgelt und rülpst schäumende Luftbläsch­en und mahnt so zur Rückkehr in die eigene Welt. Nach und nach werden die Rockpools geflutet, bis die Felslandsc­haft wieder völlig mit Wasser bedeckt ist und mit ihr auch all ihre Wunder. Es gibt noch so viel zu entdecken.

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[Thomas Schneider] Die Gezeitentü­mpel zwischen den Felsen: ein Aquarium en miniature. Die zerklüftet­e irische Küstenlini­e bietet viel Gelegenhei­t zum Rockpoolin­g.
 ?? [Thomas Schneider] ?? Nicht nur festes Schuhwerk und Kübel sind beim Rockpoolin­g wichtig. Auch eine Lupe ist hilfreich, um den Mikrokosmo­s zu beobachten.
[Thomas Schneider] Nicht nur festes Schuhwerk und Kübel sind beim Rockpoolin­g wichtig. Auch eine Lupe ist hilfreich, um den Mikrokosmo­s zu beobachten.

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