Die Welt unter irischen Wellen
Gummistiefel, ein wenig Geduld und grandiose Küstenlandschaft – mehr braucht es nicht, um auf Rockpool-Safari zu gehen. In den Gezeitentümpeln entlang des felsigen Ufers wimmelt es bei Ebbe an ungewöhnlichen Kreaturen.
Wenn sich der Ozean zweimal am Tag für einige Stunden zurückzieht, halten die zerklüfteten Felsen stets etwas Wasser zurück, so dass sich in den Kuhlen des Gesteins flache Lacken bilden. Einige dieser silbrig glänzenden Himmelsspiegel sind so klein wie Teller, andere breit wie Planschbecken.
Rockpools nennen Iren und Briten diese Tümpel, die wie kleine Fenster zu einem Kosmos sind, der den Menschen meist verborgen bleibt. Ihn zu erforschen, also Rockpooling zu betreiben, gehört zwischen Nordsee, Irischer und Keltischer See zu den beliebtesten Hobbys von Küstenbewohnern
gleich welchen Alters. Eine teure Ausrüstung, um diesem Zeitvertreib zu frönen, braucht es nicht. Gummistiefel mit rutschfester Sohle und wasserdichte Hosen genügen. Wer die Lebewesen aus nächster Nähe betrachten möchte, bringt noch einen Kübel und ein Vergrößerungsglas mit. Wichtiger als jedes Equipment sind allerdings unerschöpfliche Neugier und Ausdauer.
Garnelen im Seegras
Nie weiß man, was man auf diesen felsigen, aber gut zugänglichen Küstenstücken entdecken wird. Der erste Blick ins Becken enttäuscht oft. Kein einziger Meeresbewohner scheint darin Zuflucht genommen zu haben, um die Zeit
des Niedrigwassers zu überstehen und nicht Opfer gefräßiger Möwen und Austernfischer zu werden. Nichts außer einem Gewirr struppiger Algen in allen Formen und Farben weht im flachen Wasser wie die Haare einer Meereshexe, und auf dem Grund schimmert ein Bett perlmuttfarbener Muschelschalen – durchaus dekorativ, aber keine echte Attraktion.
Taucht man aber seine Finger in den Tümpel, kommt Bewegung in die kleine Welt – da rutscht, wirbelt und flitzt es in allen Ecken. Mit der Gewissheit, nicht vergeblich zu warten, bleiben Rockpooler nun so still und unbewegt wie möglich am Beckenrand hocken und warten gespannt darauf, was da unten als Erstes wieder aus seiner Starre erwacht.
Winzige, fast gläserne Garnelen zum Beispiel, deren schwerelose Zellophankörper über den Grund tänzeln, flache Fischlein, die durch smaragdgrüne Seegrasbüschel stöbern, und ein Paar gepunktete Augen, die auf Stielen aus dem Dunkeln eines Schneckenhauses spähen und einem scheuen Einsiedlerkrebs gehören.
Schnecken im Algenwald
Nach und nach treten immer mehr Tiere ans Licht. Seespinnen balancieren auf ihren zarten Gliedern umher. Schnecken mit spiralförmig gewundenen Häusern kriechen langsam durch den Algenwald, eine grüne Krabbe, die kaum größer als ein Daumennagel ist, wagt sich vorsichtig aus einer Felsspalte hervor.
Und was war das? Ein Hummer, der kurz aus seiner Höhle lugte? So leicht gibt der Ozean seine Geheimnisse nicht preis. Je länger man dasitzt und schaut, desto mehr sieht man – Seepocken, Strahlenflosser, Sandhüpfer und einige Anemonen. Auf dem Trockenen sehen sie mit eingezogenen Tentakeln wie dicke Marmeladenkleckse aus, unter Wasser aber stülpen die tiefroten Klumpen ihre Fangarme strahlenförmig nach außen.
Auf der Wunschliste jedes Rockpool-Entdeckers ganz oben steht der orangefarbene Gemeine Seestern, doch der bevorzugt etwas tiefere Gewässer. Sein kleiner Cousin hingegen, der Fünfeckstern Asterina gibbosa ist in Felsenbecken
häufig zu Gast. Er gleicht einem kleinen Polster und schaut noch starrer und unbeweglicher aus als seine größeren Verwandten. Tatsächlich bleiben seine Arme vollkommen steif, wenn er beginnt, sich seinen Weg zu bahnen, und wellenartig über den Seetang gleitet. Hunderte von durchsichtigen Tentakelfüßen treiben ihn an. Hebt man den kleinen Seestern vorsichtig aus dem Wasser und dreht ihn um, erkennt man auf seiner Unterseite an jedem Tentakel eine blasse Verdickung, die sich überall festsaugen kann. Wieder richtig herum gedreht, bleibt der Stern prompt an der Handfläche kleben und muss auch erst sanft überzeugt werden, wieder loszulassen.
Nicht nur die Locals tun es
Jeder Rockpool ist ein kleines Meeresaquarium voller bunter Phänomene. Diese Vielfalt beeindruckt und lässt die Beobachter begreifen, wie schützenswert das fragile Ökosystem der Ozeane ist. Einmal mit seiner Erforschung begonnen, gerät man in den lebenslänglichen Bann der Küste. Rockpooling kann zur Besessenheit werden, die einen bei Wind und Wetter und zu allen Jahreszeiten zurück ans Wasser zieht, an diese aufregende Grenze zwischen Land und Tiefsee – nicht nur bei den Locals an Irlands wilden Küsten.
Hypnotisiert von hellblauen Quallen, Seehasen, Wellhornschnecken und Anemonen sitzt man dann über Stunden hinweg am Ufer und staunt. Rockpool-Expeditionen schenken einem Momente der völligen Absorption, in denen der Rest der Welt gänzlich in Vergessenheit gerät. Gut, dass die Flut die Rückkehr des Wassers geräuschvoll verkündet. Das anschwellende Meer schlägt seine Wellen immer kräftiger gegen die Felsen. Es gluckert, gurgelt und rülpst schäumende Luftbläschen und mahnt so zur Rückkehr in die eigene Welt. Nach und nach werden die Rockpools geflutet, bis die Felslandschaft wieder völlig mit Wasser bedeckt ist und mit ihr auch all ihre Wunder. Es gibt noch so viel zu entdecken.