Chinas Führung sucht Ausweg aus der Krise
Am Dienstag versammeln sich Chinas Abgeordnete. Das Land steht vor großen Herausforderungen. Es wächst der Druck, dass Staatschef Xi Jinping Lösungen liefert.
Wenn Chinas Abgeordnete am Dienstag die Große Halle des Volkes betreten, dann demonstriert der Einparteienstaat beim Nationalen Volkskongress eine geradezu beeindruckende politische Geschlossenheit: Gesetze werden mit „nordkoreanischen“Zustimmungswerten abgenickt, Zeichen des Dissens sind nicht im Protokoll vorgesehen. Doch außerhalb des Pekinger Regierungsviertels zeigt sich sehr wohl, wie die Geduld innerhalb der Bevölkerung langsam bröckelt: Denn nach mehreren wirtschaftlich schwierigen Jahren wächst der Druck auf Staatschef Xi Jinping, dass er die passenden Antworten auf die Krise liefert.
Wer dieser Tage durch die Provinzen fährt, der sieht ein Land, dessen Boomjahre längst vorüber sind. Für die meisten Chinesinnen und Chinesen ist die Pandemie mit empfindlichen Wohlstandsverlusten einhergegangen. Und der erhoffte Post-Corona-Aufschwung ist ebenfalls ausgeblieben: Ein Großteil der Bevölkerung musste Lohnkürzungen hinnehmen; viele Universitätsabsolventen haben zudem Schwierigkeiten, einen adäquaten Job zu finden.
Wachstum oder Sicherheit
Dennoch mehren sich die Zeichen, dass der Nationale Volkskongress nicht den erwarteten Reformwurf bringen wird, auf den die Ökomomen hoffen. Denn eigentlich hätten diese bereits beim sogenannten dritten Plenum des 20. Zentralkomitees angekündigt werden sollen. Doch das im November erwartete Treffen fand bis heute nicht statt. Die meisten Experten deuten dies als ernüchterndes Zeichen.
Über ein Jahr nach Ende der „Null-Covid“-Politik oszilliert Xi Jinpings Führung weiterhin zwischen zwei Zielen, die ganz offensichtlich im Widerspruch zueinander stehen: Wirtschaftswachstum und nationale Sicherheit. Immer wieder hat die Regierung ambivalente Signale ausgesandt: Wenn etwa Premierminister Li Qiang beim Wirtschaftsforum in Davos die internationalen Investoren umgarnt und das Geschäftsklima in China lobt, während gleichzeitig die Aufsichtsbehörden Razzien bei westlichen Beratungsunternehmen durchführen. Schlussendlich, so lautet der Konsens der meisten Beobachter, behält die nationale Sicherheit stets die Oberhand.
Xi baute China um
Wie sehr Xi den Kurs seines Landes prägt, hat nun der Historiker Steve Tsang von der Londoner School of Oriental and African Studies (Soas) gemeinsam mit seiner Kollegin Olivia Cheung analysiert. In ihrem neuen Buch über die politische Gedankenlehre Xis argumentieren sie, dass sich die Hardware der Volksrepublik – ein Parteistaat nach leninistischem Vorbild – zwar niemals geändert hat, aber Xi dem Land ein grundlegendes Software-Update verpasst hat.
Als der heute 70-Jährige die Parteispitze übernahm, befand sich das Reich der Mitte in einer ideologischen Sinnkrise. Korruption und Werte-Nihilismus hatten die kommunistische Partei ausgehöhlt. Xi reagierte mit einer flächendeckenden Anti-Korruptionskampagne, die stets auch politische Feinde ausschaltete. Außerdem weitete er den Einfluss der Parteizellen wieder in sämtliche Bereiche aus – von Privatunternehmen bis hin zu Universitätsinstituten. Dass Xi damit auch das rasante Wirtschaftswachstum ausgebremst hat, übertüncht er nun zunehmend mit nationalistischen Tönen. Das Versprechen an seine Bevölkerung heißt die „große Verjüngung der chinesischen Nation“– eine Vision, die auch eine Vereinigung mit dem demokratisch regierten Taiwan miteinschließt.
Beim am Dienstag beginnenden Nationalen Volkskongress wird jedoch vor allem die Wirtschaft im Vordergrund stehen. Allen voran gibt Premier Li Qiang bei seiner Rede am Eröffnungstag das Wachstumsziel für das laufende Kalenderjahr bekannt. Zuletzt hat die Parteiführung für 2023 „rund fünf Prozent“ausgegeben, was bereits einen Bruch mit der alten Tradition darstellt, das avisierte Wachstum des Bruttoinlandsprodukts bis auf die erste Kommastelle zu bestimmen. Ökonomen hoffen nun, dass am besten gar keine Kennzahl mehr genannt wird. Denn das würde den Wirtschaftsplanern ausreichend Raum für schmerzhafte, aber nötige Reformen geben. An die offiziellen Zahlen glauben ohnehin nur mehr die wenigsten: Zu sehr haben die Behörden in letzter Zeit Informationszugänge versperrt und statistische Methoden verändert.
Alleinherrscher in Peking
Wang Tao, China-Analystin der UBS-Bank, legte kürzlich in einem Kommentar in der „Financial Times“dar, dass die Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft kein Geheimnis seien: Mit Kredithilfen für Bauentwickler könnten Zahlungsausfälle im Immobiliensektor abgewendet und das Vertrauen der Käufer wiederhergestellt werden, mit einem Stimuluspaket der historisch niedrige Binnenkonsum angekurbelt werden. „Chinas Regierung verfügt über die Instrumente, um den derzeitigen Abschwung zu überwinden“, schlussfolgert Wang: „Aber der Erfolg wird von rechtzeitigem Handeln, politischer Koordinierung und politischem Willen abhängen.“
Und dieser widerum hängt zunehmend vom Willen einer einzigen Person ab. Denn Xi hat sich im vergangenen Jahrzehnt radikal vom konsensbasierten Führungsmodell des Zentralkomitees verabschiedet und sich stattdessen zum „Kern“der Partei erhoben. Als Alleinherrscher stehen ihm zwar außergewöhnliche Steuerungsmöglichkeiten zur Verfügung, aber zugleich erhöht sich auch die Gefahr politischer Krisen: Dass etwa China derart lang an seiner dogmatischen Lockdown-Politik festgehalten hat oder zu Beginn des Ukraine-Kriegs eng an der Seite Putins gestanden ist, dafür trägt Xi die Verantwortung. Nun wird er sich ebenfalls an der wirtschaftlichen Leistung seines Land messen müssen.