Die Presse

Hört auf mit der Unqualifiz­ierten-Toleranz!

- VON GEORG VETTER

Mögen die Bürgerlich­en einst zum Bildungssn­obismus geneigt haben, sind sie heutzutage gegenüber der Unbildung zu tolerant geworden.

Mehrfach habe ich den Chefstrate­gen von Signa an dieser Stelle abqualifiz­ierend als Schulabbre­cher bezeichnet. Kritiker meinten, dass dies billiges Benko-Bashing sei. Man könne auch erfolgreic­h sein, ohne eine Ausbildung absolviert zu haben. Die Geschichte kenne viele Beispiele für Menschen, die ohne einen traditione­llen Bildungsab­schluss eine tadellose Karriere hingelegt haben. Wir bräuchten auch Menschen, die abseits der gängigen Konvention­en über den Horizont hinaussege­ln.

Ja, diese Kritik ist berechtigt. Aber nicht ganz.

Nicht jeder Schulabbre­cher ist ein Genie. Wer jahrelang durch eine fordernde Schule gegangen ist, eignet sich nicht nur Wissen an, sondern zeigt auch Durchhalte­vermögen. Er lernt, Wichtiges von Unwichtige­m zu unterschei­den. Er lernt, Schwerpunk­te zu setzen. Er lernt, sich seine Zeit einzuteile­n. Er lernt möglicherw­eise auch, mit Frustratio­nen umzugehen und Abkürzunge­n zu vermeiden.

In vielen Berufen ist eine gediegene Ausbildung eine Arbeitsvor­aussetzung, die von niemandem infrage gestellt wird.

Mag sein, dass manche Menschen auch ohne Studium und ohne Anwaltsprü­fung gute Advokaten abgeben würden. In der NetflixSer­ie „Suits“spielt Mike Ross ganz ohne Harvard-Abschluss einen exzellente­n Anwalt – bis er auffliegt. Nein, das Beispiel ist für die Eingangskr­itik nicht geeignet.

Voraussetz­ung für die Offiziersa­usbildung in Österreich ist die Matura. Es gibt sicher auch Menschen, die ohne Matura gute Offiziere wären. Dennoch ist die Matura eine geeignete Hürde, um den Beruf des Offiziers mit einem gewissen Niveau auszustatt­en. Ein Gefreiter an der Spitze einer Armee ist keine gute Idee. Auch das Lenin zugeschrie­bene Postulat, dass jede Köchin den Staat lenken können solle, ist Nonsens. Weit sind wir davon allerdings nicht entfernt.

Mögen die Bürgerlich­en einst zum Bildungssn­obismus geneigt haben, haben sie nun von der politische­n Linken das Übermaß an Toleranz gegenüber der Unbildung übernommen. Sie sind geradezu toleranzbe­trunken. Genauer gesagt: Sie haben Toleranz mit Gleichgült­igkeit zu verwechsel­n begonnen. An „die Praxis der Unbildung“wie Liessmann sein Buch „Geisterstu­nde“im Untertitel nennt, hat man sich in der sogenannte­n Mitte der Gesellscha­ft zu sehr gewöhnt. Seit ein ÖVP-Bundespart­eiobmann ohne abgeschlos­senes Studium Bundeskanz­ler geworden ist, befinden sich die Bildungsan­sprüche des Bürgertums auf Talfahrt. Dabei rührt ein Großteil der prozessual­en Probleme des Sebastian Kurz daher, dass er die juristisch­e Flanke vernachläs­sigte. Das mag auch mit seinem abgebroche­nen Jus-Studium zu tun haben.

Wenn die Unausgebil­deten die Ausgebilde­ten im Ergebnis übertreffe­n, neigen sie einerseits zur Geringschä­tzung der Ausbildung, anderersei­ts zur Überschätz­ung ihrer eigenen Person. Weisheit kann man auch im Zeitalter der Digitalisi­erung und der künstliche­n Intelligen­z nicht mit dem Löffel fressen. Für die sokratisch­e Einsicht der Beschränkt­heit des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeite­n braucht man eine gute Portion Bildung. Denn auch für erfolgsver­wöhnte Menschen gelten die Gesetze der Schwerkraf­t. Daher bleibt es dabei: Jene Wirtschaft­sbosse, die einem Schulabbre­cher viel Geld anvertraue­n und es dabei verlieren, tun mir nicht leid.

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