Geht es Schweizern gut, weil der Staat kein Geld verjuxt?
Häufig wird die Staatsquote angeführt, um die Lage eines Staates einzuschätzen. Die Aussagekraft ist fragwürdig.
Zur Charakterisierung der wirtschaftlichen und sozialen Lage eines Staates werden unterschiedliche Kennzahlen verwendet – Bruttoinlandsprodukt (BIP), BIP/Kopf, Maße für Ungleichheit, Armutsquote, Arbeitslosenzahlen usw. Die entsprechenden Daten werden für internationale Vergleiche und für die Darstellung von Entwicklungen über die Zeit hinweg verwendet.
Eine der immer wieder angeführten Kennzahlen ist die Staatsquote. Das ist der Prozentsatz der staatlichen Ausgaben für politisch gewünschte Ziele, gemessen an der Höhe des BIPs. Kommerzielle Aktivitäten des Staates, etwa durch Staatsunternehmen, zählen nicht dazu. Für Österreich betrug sie im Jahr 2022 52,4 Prozent, in Deutschland war sie etwas niedriger, in der Schweiz nur 33,6 Prozent. Geht es den Schweizern so gut, weil der Staat kein Geld verjuxt; oder sind die Schweizer arm dran, weil ihnen der Staat nur wenig bietet? Ein Blick nach Norden: Die Staatsquote in Schweden lag 2022 bei etwas über 48 Prozent, in Finnland war sie ähnlich hoch wie in Österreich, in Norwegen rund 45 Prozent. In den USA liegt die Staatsquote bei 37 Prozent.
Die Aussagekraft dieser Kennzahl ist aber fragwürdig. Man muss bei der Berechnung der Staatsquote zwei unterschiedliche Systeme staatlicher Aktivitäten unterscheiden. Das eine sind die Ausgaben für die Produktion der Dienste und der Einrichtungen des Staates. Es handelt sich dabei um einen Teil des BIPs. Der Lohn jedes Lehrers, jeder Polizistin erhöht das BIP um den entsprechenden Bruttolohn. Würde der Lohn der Beamten verdoppelt und gleichzeitig eine Spezialsteuer für Beamte in der gleichen Höhe eingeführt werden, so würden das BIP und die Staatsquote steigen, ohne dass sich irgendetwas geändert hätte.
Die zweite in der Staatsquote erfasste Aktivität des Staates sind die Zahlungen zur Umverteilung. Das sind in erster Linie die großen staatlichen Sozialsysteme, nämlich Pensionen, Gesundheitsvorsorge und die finanzielle Familienunterstützung. Es geht jedenfalls um Aufwendungen für politisch festgelegte Ziele – Sicherheit, gute Ausbildung für möglichst viele junge Menschen etc.
Staaten unterscheiden sich aus historischen und aktuellen politischen Gründen, was als Aufgabe des Staates gesehen wird und was nicht dazugehört. In Österreich wird der Zugang zu Gesundheitsdiensten als Aufgabe des Staates gesehen. In der Schweiz muss aus den nach Steuern ausbezahlten Gehältern noch die Krankenversicherung gezahlt werden. Es gibt eine Pflicht, sich zu versichern, aber es ist keine Aktivität des Staates.
Der Ländervergleich hinkt
Das reduziert die Staatsquote. Das Gesundheitssystem der Schweiz mag in manchen Aspekten besser als das österreichische sein, in anderen schlechter. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es viel besser oder viel schlechter ist. In den USA gibt es ein öffentliches Gesundheitssystem nur für Personen über 67 (Medicare) und für arme Menschen (Medicaid). Wer nicht zu einer der beiden Gruppen gehört, hat eine private Versicherung oder ist über den Arbeitgeber versichert.
Das deutsche Pensionssystem sieht geringere Ersatzquoten vor als das österreichische. Die vom Staat eingehobenen Summen können daher niedriger sein als in Österreich. Die privaten Haushalte müssen in Deutschland mehr sparen, um das gleiche Einkommen im Alter zu haben wie in Österreich.
war Professor am Institut für Volkswirtschaftslehre der Uni Wien. Er schrieb für das „Spectrum“viele Beiträge zu Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik. Sein Text ist Teil des „Ökonomischen Blicks“, der Blogreihe, die die Nationalökonomische Gesellschaft jede Woche in Kooperation mit der „Presse“gestaltet.
In den USA sichert das staatliche Pensionssystem nur eine sehr niedrige Pension. Für das Alter selbst vorzusorgen ist dort für die Menschen mit höherem Einkommen eine Selbstverständlichkeit.
Die Staatsquoten international zu vergleichen, setzt auch voraus, dass die Unterscheidung zwischen staatlichen und marktwirtschaftlichen Aktivitäten klar und eindeutig ist. Das ist aber oft nicht der Fall. Der organisierte Nahverkehr in Wien ist sicher ein öffentlich angebotenes Gut. Dazu gehören auch die von der Gemeinde Wien beauftragten privaten Buslinien. Werden sie herausgerechnet aus den Bilanzen dieser Unternehmen bei der Berechnung der Staatsquote?
Das ist ein kleiner Fall, aber wie ist das bei den ÖBB? Das Netz der Eisenbahn ist eindeutig ein öffentliches Gut. Für den Transport von Menschen und Gütern auf diesem Netz gilt das nicht. Für die ÖBB ist das eine kommerzielle Tätigkeit mit viel Wettbewerb. Sie sollte nicht in der Staatsquote enthalten sein. In Österreich gibt es einen freien Zugang zu Universitäten und Hochschulen. Die vom Staat den Ausbildungsstätten zur Verfügung gestellten Mittel sind daher in der Staatsquote Österreichs enthalten.
Staatsquote wird steigen
Unterschiede in den Staatsquoten zwischen Staaten sagen nichts aus, auch wenn man eine hohe Staatsquote als gut beziehungsweise schlecht ansieht. Aber die Entwicklung der Staatsquote für einen bestimmten Staat kann sinnvoll gedeutet werden. Man muss nur annehmen, dass die institutionellen Strukturen der Staaten und deren Abbildung in den entsprechenden Daten sich nicht rasch verändern.
Eine Prognose sei aber gewagt: Die Staatsquote in Österreich wird steigen. Alle sind dafür, aber nicht alle sagen es. Wir brauchen mehr Lehrer, Pflegekräfte, Sozialarbeiter, Eisenbahner, Polizisten, Busfahrer, Soldaten, Ärzte auf dem Land. Auch ich finde das gut. Aber wie soll das gehen – ohne einen Anstieg der Staatsquote?