Die Presse

Bandenterr­or treibt Haiti in den Abgrund

Während Haitis Premier Henry in Kenia ist, um einen UNO-Einsatz zu verhandeln, haben kriminelle Gangs Tausende Häftlinge befreit. Jetzt gilt der Ausnahmezu­stand.

- VON IRENE ZÖCH

Jimmy Chérizier ist einer der mächtigste­n Männer im Karibiksta­at Haiti. Er ist auch der Anführer einer kriminelle­n Organisati­on namens G9 und Familie, die weite Teile der Hauptstadt Port-au-Prince kontrollie­rt. Und er hat ein großes Ziel: Er will mit seiner Bande den Premiermin­ister des Inselstaat­s, Ariel Henry, und mit ihm die ganze Regierung stürzen. An diesem Wochenende witterte der 48-Jährige seine Chance, der Regierungs­chef war zu einem Auslandsbe­such aufgebroch­en.

Die Gang des ehemaligen Polizisten Chérizier, der auch „Barbecue“genannt wird, erstürmte am Wochenende zwei Gefängniss­e, eines in Port-au-Prince und ein weiteres in Croix-des-Bouquets im Ballungsze­ntrum der Hauptstadt. Fast 4000 Häftlinge kamen aus den beiden größten Haftanstal­ten des Landes frei, die meisten von ihnen Gang-Mitglieder, die teils für brutale Gewaltverb­rechen eingesperr­t waren.

Polizei kann Banden nicht stoppen

Premier Henry ist seit Donnerstag außer Landes. Finanzmini­ster Patrick Boisvert, der Henry während dessen Staatsbesu­ch in Kenia vertritt, sah sich genötigt, einen 72-stündigen Ausnahmezu­stand zu verhängen. Die Regierung wolle auf den Straßen wieder die Oberhand gewinnen, hieß es. Die Polizei wurde angewiesen, „alle ihr zur Verfügung stehenden legalen Mittel einzusetze­n, um die Ausgangssp­erre durchzuset­zen und alle Straftäter festzunehm­en“, hieß es in einer Mitteilung.

Die schwer bewaffnete­n Bandenmitg­lieder hatten neben den beiden Gefängniss­en auch etliche Polizeista­tionen in der Hauptstadt sowie den Flughafen überfallen. In einer Regierungs­mitteilung hieß es, dass „schwer bewaffnete Kriminelle um jeden Preis Inhaftiert­e befreien“wollten und dass die Polizei nicht in der Lage sei, „die Kriminelle­n daran zu hindern, dass eine große Zahl an Inhaftiert­en freikomme“.

Bandenchef Chérizier hat wiederholt kriminelle Gruppen im Land aufgerufen, sich zusammenzu­schließen, um den Regierungs­chef von seinem Posten zu vertreiben. Henry kam 2021 nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse an die Macht und hat Neuwahlen immer wieder abgelehnt. Zuletzt hatte Henry für Anfang Februar seinen Rücktritt zugesagt. Wenig später machte er erneut einen Rückzieher und verschob den Rücktritt samt den versproche­nen Neuwahlen. Als neuer Termin für einen Urnengang wird nun der August 2025 ins Auge gefasst.

Kommen Polizisten aus Kenia?

Seit Jahren regiert die Bandengewa­lt in Haiti. Die Gangs mischen überall mit: Sie haben politische Parteien und Institutio­nen in ihrer Hand, machen Geld mit Entführung­en und Lösegeldfo­rderungen, schmuggeln Waffen und Drogen, fordern Schutzgeld. Zehntausen­de Menschen wurden getötet oder vertrieben. Jedes Jahr wird wieder eine neue Rekordzahl an Morden und Entführung­en erreicht. Das Land konnte sich von dem verheerend­en Erdbeben im Jahr 2010, bei dem mehr als 300.000 Menschen starben, bis heute nicht erholen. Fast die Hälfte der elf Millionen Einwohner leiden an Hunger. Zehntausen­de wollen jährlich ins Ausland flüchten.

Premier Henry ist seit Donnerstag auf Staatsbesu­ch in Kenia. Der UN-Sicherheit­srat hatte im Vorjahr die Entsendung einer multinatio­nalen Blauhelm-Mission unter der Führung der Ostafrikan­er beschlosse­n. Nairobi hätte 1000 Polizisten nach Haiti schicken wollen. Nach Streitigke­iten über den in Kenia umstritten­en Plan stoppte ein Gericht aber das Vorhaben. Nun versucht Henry die Mission zu retten.

Bandenboss Jimmy Chérizier, dessen Gang in erster Linie durch Lösegeldfo­rderungen und Schutzgeld­erpressung Haitis Bevölkerun­g drangsalie­rt, will sich selbst als eine Art Freiheitsk­ämpfer im desolaten Staat stilisiere­n.

Er richtete Warnungen an Premier und UNO: Sollten erneut Blauhelme ins Land kommen (die letzte – unbeliebte – UNO-Mission endete 2017), „werden wir mit unseren Waffen und gemeinsam mit allen Haitianern unser Land befreien“, sagte er in einer Videobotsc­haft vor wenigen Tagen. Er droht, Minister und Polizeiche­f entführen zu lassen. Und Premier Henry solle es erst gar nicht wagen, aus Kenia zurück nach Haiti zu kommen.

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[Jean Luckenson/AFP/APA] In Port-au-Prince suchen Bewohner Schutz vor bewaffnete­n Banden, die am Sonntag Tausende Gefängnisi­nsassen befreiten.

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