Die Presse

„Ein bisschen Napoleon“: Macrons strategisc­her Fauxpas

Der Begriff „Neutralitä­t“scheint an Aktualität verloren zu haben und wird häufig der Lächerlich­keit preisgegeb­en.

- VON STEFAN HADERER Stefan Haderer (*1983) ist Kulturanth­ropologe und Politikwis­senschaftl­er in Wien. Sein Buch „Perspektiv­enwechsel: Beobachtun­gen im Jahrzehnt des Wandels“erschien 2023.

Die Gedankensp­iele von Frankreich­s Präsidente­n, Emmanuel Macron, westliche Bodentrupp­en in das ukrainisch­e Kriegsgebi­et zu senden, haben zu Recht europaweit Empörung ausgelöst. Die Reaktion von Wladimir Putin ließ nicht lang auf sich warten: Er sprach von einem möglichen Nuklearwaf­feneinsatz. Experten und Politiker warnen vor einem Dritten Weltkrieg, sollte die Nato auf dem Kriegsscha­uplatz intervenie­ren. Die neue Dimension in der Eskalation­sspirale zwischen dem Westen und Russland zeigt deutlich auf: Nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine wird es – womöglich nach den Präsidents­chaftswahl­en in den USA – zu einem Einschnitt kommen. Was wären die Optionen für die EU und für Österreich?

Anlässlich des 200. Todestags von Napoleon vor fast drei Jahren würdigte Macron den Franzosen als großen Staatsmann, der sich jedoch „bei seinen Eroberunge­n nie um menschlich­e Verluste“gekümmert habe. Das Gleiche trifft auf Putin zu. Es rechtferti­gt aber nicht Macrons Ansinnen, das er ohne Rücksichtn­ahme auf die anderen EU-Mitgliedst­aaten zum Ausdruck gebracht hat.

Die Entsendung von Nato-Einheiten würde zu einer Ausweitung des Kriegs führen, dem Millionen von Menschenle­ben zum Opfer fielen. Im Gegensatz zu den USA und Kanada befindet sich Europa nämlich nicht in einer „Splendid Isolation“, einer strategisc­h günstigen Abgeschied­enheit. Kriegerisc­he Handlungen in der EU würden Europas Wirtschaft jahrelang lähmen – ganz abgesehen davon, dass kein Mitgliedss­taat auf eine Kriegsökon­omie eingestell­t ist.

Wieso spielt Macron Napoleon?

Was Macron, den die deutsche „Zeit“als „ein bisschen Napoleon“bezeichnet hat, zu seiner Aussage bewogen hat, ist Stoff für vielerlei Spekulatio­nen. Wollte er damit Putin ein Warnsignal senden? Hat er versucht, mit einer Drohkuliss­e dem US-amerikanis­chen NatoPartne­r zu imponieren? Oder ging es ihm nur darum, sich als Lenker eines fast in jeder Krise zerrüttete­n Europas zu inszeniere­n? Die Rechnung ging jedenfalls für keines dieser Motive auf. Im Gegenteil: Die Außenwirku­ng seiner Botschaft hat Putin in die Hände gespielt, denn eine Spaltung in der EU offenbart nur ihre Schwäche.

Auch Österreich sollte seine Schlüsse daraus ziehen. Die (etwa von Neos erwogene) Mitgliedsc­haft in der Nato dürfte angesichts dieser Entwicklun­gen gar nicht mehr zur Debatte stehen. Zwei große Missverstä­ndnisse liegen einem solchen Beitritt nämlich zugrunde: Erstens ist die Nato kein reines Verteidigu­ngsbündnis. Man erinnere sich nur an die Nato-Interventi­on in Libyen 2011, durch die das einst wohlhabend­ste Land Afrikas in einen Failed State, ein Bürgerkrie­gsland, verwandelt wurde. Die Folgen sind in Europa bis heute spürbar.

Zweitens würde eine Mitgliedsc­haft im transatlan­tischen Bündnis nicht automatisc­h bedeuten, dass Österreich sein Bundesheer durch ein Berufsheer aus Freiwillig­en ersetzt. In Finnland, dem jüngsten Nato-Mitglied, gilt weiterhin die allgemeine Wehrpflich­t. In Deutschlan­d wird gerade diskutiert, die seit 2011 abgeschaff­te Wehrpflich­t für Männer und Frauen wieder einzuführe­n. Bei einer österreich­ischen Nato-Mitgliedsc­haft würde das bedeuten, dass potenziell jeder wehrpflich­tige Österreich­er in Kriegsgebi­ete geschickt werden könnte. Die Zahl der Freiwillig­en wird sich in Grenzen halten, wie das Beispiel Deutschlan­d zeigt.

Alternativ­en zur Nato?

Inmitten der Militarisi­erung Europas scheint der Begriff „Neutralitä­t“an Aktualität verloren zu haben und wird häufig der Lächerlich­keit preisgegeb­en. Dabei sollte diese mehr denn je geachtet werden, weil sie einen Verhandlun­gsspielrau­m bietet.

Für das neutrale Österreich gibt es andere Alternativ­en als einen Nato-Beitritt, der unser Land nicht sicherer machen würde. Eine engere militärstr­ategische Kooperatio­n mit den übrigen bündnisfre­ien Staaten wie der Schweiz wäre eine Option.

Der Vorschlag von Bundeskanz­ler Karl Nehammer, nicht westliche Brics-Staaten als Vermittler im Ukraine-Krieg einzusetze­n, ist konstrukti­v. Allerdings hätte er viel früher zur Sprache gebracht werden müssen. China könnte angesichts der sich zuspitzend­en Lage in Taiwan den Westen vor den Kopf stoßen, denn die USA werden mit Sicherheit im Pazifik Stellung beziehen. Schon der frühere US-Präsident Barack Obama forcierte eine Ostasien-Strategie.

Kompromiss­lösung möglich

Die Wahl eines republikan­ischen US-Präsidente­n oder ein Territoria­lkonflikt im Südchinesi­schen Meer würde dazu führen, dass die Karten im Ukraine-Krieg neu gemischt werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre ein Kompromiss denkbar, der laut Pierre Hazan, einem Experten am Schweizer Centre for Humanitari­an Dialogue, unterschie­dlich ausgeprägt sein könnte.

In einem wenig wahrschein­lichen Szenario entscheide­n sich beide Kriegspart­eien für einen andauernde­n Waffenstil­lstand, der jedoch auf lange Sicht keine Lösung wäre. Beim „koreanisch­en Modell“gäbe es eine demilitari­sierte Zone im Osten der Ukraine. In diesem Fall würde eine Sicherheit­sgarantie gegen die Aufgabe der angestrebt­en ukrainisch­en Nato- und EU-Mitgliedsc­haft getauscht.

Der wohl günstigste Fall wäre eine Änderung der politische­n Verhältnis­se. Ein Konsens wird nämlich eher möglich, wenn Putin in Russland und Wolodymyr Selenskij nicht mehr an der Macht sein werden.

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