China erhöht Druck auf Taiwan
China streicht das Wort „friedlich“aus Plan zur Wiedervereinigung mit der Insel und erhöht das Militärbudget.
Als die fast 3000 Delegierten am Tian’anmen-Platz aus ihren Reisebussen stiegen, war fast alles wieder beim Alten: Journalisten stürmten auf die in Volkstracht, Militäruniform und Arbeitskleidung gehüllten Parlamentarier zu, um sie vor dem Betreten der Großen Halle des Volkes für ein Kurzinterview abzufangen. Und tatsächlich: Die meisten standen Rede und Antwort, auch wenn die Stellungnahmen oft wie auswendig gelernt wirkten. Doch ohne Frage war die Regierung bemüht, sich nach vier Jahren Corona-Restriktionen beim Nationalen Volkskongress wieder offener zu zeigen.
Wachstumsziel fünf Prozent
Premier Li Qiang gelang das beim traditionellen Arbeitsbericht nur bedingt. Seine Rede bildet stets die Eröffnung und auch den Höhepunkt des Volkskongresses. Mit Spannung erwarteten die Beobachter vor allem das von der Regierung ausgewiesene Wachstumsziel für das laufende Kalenderjahr. „Rund fünf Prozent“bestimmte der Premier – wie schon 2023.
Angesichts der angeschlagenen Wirtschaft wirkt der ebenfalls am Dienstag ausgewiesene Militäretat überaus dekadent: Erneut wird er um 7,2 Prozent steigen, und damit deutlich stärker als das BIP-Wachstum.
Die Diskrepanz wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass viele Kostenpunkte der Volksbefreiungsarmee in den offiziellen Statistiken gar nicht auftauchen. Doch allein die Regierungszahlen sprechen eine deutliche Sprache: Seit drei Jahrzehnten ist der Anstieg des Militäretats niemals unter 6,6 Prozent gefallen.
Vor allem Taiwan wird die Entwicklungen genau verfolgen. Die Regierung des demokratischen Inselstaates dürfte zudem besorgt sein über die Sprachwahl Pekings: Taiwan wurde in Li Qiangs Arbeitsbericht zwar nur in einem Absatz erwähnt, dennoch brach er mit einer alten Standardklausel. Sprachen die chinesischen Premierminister zuvor stets von einer „friedlichen Wiedervereinigung“, ließ Li diesmal das Adjektiv „friedlich“kurzerhand weg. Offensichtlich wird Peking künftig stärker auf Druck und möglicherweise auch militärische Macht setzen.
Wie die vom Premier ausgegebene Höhe des Wirtschaftswachstums einzuordnen ist, ist eine Frage der Perspektive: Fünf Prozent ist niedrig gemessen an den Wachstumsraten, die China noch in den Nullerjahren hinlegte. Doch gemessen an den Herausforderungen ist das Ziel dennoch sehr ambitioniert: Die Immobilienkrise wird noch jahrelang auf das Wachstum drücken, der Binnenkonsum ist weiter schwach, die ausländischen Investoren halten sich ebenfalls zurück. „Es wird nicht einfach sein, die diesjährigen Ziele zu erreichen“, sagte Li Qiang.
Ambitionierte Hoffnungen
Doch wie das Land überhaupt expandieren möchte, bleibt für viele Experten eine Frage. „Chinas Arbeitsbericht bestätigt dasselbe Wachstumsziel wie im vergangenen Jahr, legt aber keinen Plan vor. Kein Stimulus, keine Liberalisierung, nichts“, kommentiert die Ökonomin Alicia García-Herrero von der Nataxis-Bank auf X.
Dabei ließ Li Qiang durchaus selbstkritische Töne anklingen. So sprach er offen von strukturellen Problemen der Volkswirtschaft und der Notwendigkeit, das eigene Entwicklungsmodell zu transformieren. Zugleich machte er deutlich, keine allzu großen Wagnisse eingehen zu wollen. Klar ist: Li Qiang möchte Chinas Wirtschaft auf der Wertschöpfungskette weiter nach oben treiben. Bei Elektroautos, erneuerbaren Energien und, mit Einschränkungen, auch Halbleitern befindet sich China auf einem vielversprechenden Weg. Doch noch generieren diese Technologien zu wenig Umsätze, als dass sie den angeschlagenen Immobiliensektor als Wachstumsmotor ersetzen könnten.
Die Märkte reagierten auf die Zukunftsvision Pekings wenig beeindruckt: In Shanghai blieben die Kurse am Dienstag mehr oder weniger konstant, der Hongkonger Hang Seng Index sank um mehr als zweieinhalb Prozent. Nur wenige Stunden vor Lis Rede sagte Sharmin Mossavar-Rahmani, Starbankerin bei Goldman Sachs: „Unsere Sicht ist, dass man nicht in China investieren sollte.“
In den Zuschauerrängen der Großen Halle tummelten sich auch Hunderte Journalistinnen und Journalisten aus dem Globalen Süden. Die meisten von ihnen bleiben dank großzügiger Stipendien vier Monate im Land. Aus Sicht Chinas ist es eine smarte Investition, denn in weiten Teilen Lateinamerikas und der arabischen Welt gewinnt die Volksrepublik an „soft power“: China steht für Aufstieg aus der Armut und für eine alternative Weltmacht ohne koloniale Vergangenheit. Dass das Land immer unfreier geworden ist, fällt für viele Beobachter aus dem Globalen Süden vergleichsweise wenig schwer ins Gewicht.