Die Presse

Zum Facharzt nur mit Überweisun­g: Was dafür- und was dagegenspr­icht

Eine Lenkung der Patienten ist überfällig, die Entwicklun­g der vergangene­n Jahre konterkari­ert aber das Konzept der Österreich­ischen Gesundheit­skasse.

- VON KÖKSAL BALTACI

Weil die Zahl der Besuche von Ordination­en in den vergangene­n 18 Jahren stark gestiegen ist, fordert Andreas Huss, stellvertr­etender Obmann der Österreich­ischen Gesundheit­skasse (ÖGK), Zugangsbes­chränkunge­n zu Fachärzten. Denn insbesonde­re ihre Praxen sind von der Zunahme der Patientenk­ontakte betroffen: 2006 suchten Patienten im Schnitt 11,4 Mal pro Jahr eine Ordination auf, 2022 waren es 14,5 Mal. Mit der Folge, dass auf Termine monatelang gewartet werden muss.

Zurückzufü­hren ist dieser Anstieg vor allem auf den Umstand, dass Patienten Fachärzte auch ohne Überweisun­g aufsuchen dürfen. Vor der Einführung der E-Card 2005, als es noch Krankensch­eine gab, war das bekanntlic­h nicht möglich, damals brauchte es eine Überweisun­g von einem Hausoder einem anderen Facharzt. Eine solche Lenkungsma­ßnahme kann sich Huss nun auch mit der E-Card vorstellen – für Besuche von Facharztor­dinationen und Spitalsamb­ulanzen soll eine Freischalt­ung der Karte durch den Hausarzt notwendig sein. Mit dem Kalkül, dass Patienten nicht unnötig Fachärzte und Ambulanzen aufsuchen, sondern zunächst ihre Hausärzte kontaktier­en. Denn diese wüssten am besten, an welcher Stelle des Gesundheit­ssystems ihre Patienten idealerwei­se aufgehoben sind. Zudem könnten viele Diagnosen und Behandlung­en ohnehin von den Hausärzten selbst gestellt bzw. durchgefüh­rt werden.

Argumente dafür

Die fehlende Lenkung der Patienten, also Türsteherm­echanismen, gehört zu den größten Problemen des Gesundheit­ssystems. Daher rennt Huss mit dem Vorstoß, den Zugang zu Fachärzten und Spitalsamb­ulanzen – wie in anderen Ländern wie etwa Dänemark – zu beschränke­n, bei den meisten Gesundheit­sexperten offene Türen ein. Denn für viele Beschwerde­n sind nun einmal Hausärzte die beste Anlaufstel­le – medizinisc­h wie auch ökonomisch.

Die personell und technisch hochgerüst­ete Infrastruk­tur einer Facharztpr­axis oder Spitalsamb­ulanz ist vielfach schlichtwe­g nicht notwendig – einen klaren Beweis dafür liefern die sogenannte­n Erstversor­gungsambul­anzen, die in den vergangene­n Jahren in einer Vielzahl von Spitälern errichtet wurden, in Wien unter anderem in den Kliniken Landstraße, Ottakring, Favoriten, Donaustadt, Floridsdor­f und im AKH. Dort heißt sie Allgemeinm­edizinisch­e

Akutordina­tion (AMA), eröffnet wurde sie Ende 2016. Sie alle entspreche­n Hausarztpr­axen, haben großzügige Öffnungsze­iten (bis in den Abend hinein, auch an Feiertagen und Wochenende­n) und ein Ziel: schnell herauszufi­nden, ob es sich bei einer Erkrankung oder Verletzung wirklich um einen Notfall handelt. Im AKH etwa benötigen nur 7,5 Prozent der Patienten, die die Notfallamb­ulanz aufsuchen, eine fachärztli­che Untersuchu­ng.

Der Rest kann in der Erstversor­gungsambul­anz effiziente­r behandelt werden. Das Konzept geht bisher voll auf und hat zu einer spürbaren Entlastung der Spitäler geführt. Auch wenn diese Zahl nicht eins zu eins auf Facharztor­dinationen übertragen werden kann, ist es offensicht­lich, dass die Entscheidu­ng, welche Stelle des Gesundheit­ssystems mit welchen Beschwerde­n aufgesucht werden sollte, nicht den Patienten selbst überlassen werden darf. Sie verfügen häufig nicht über die nötige Kompetenz dafür.

Argumente dagegen

Andreas Huss begründet seine Forderung vor allem mit der Feststellu­ng, dass Hausärzte ihre Patienten über Jahre und Jahrzehnte hinweg begleiten und sie daher sehr gut kennen würden – sie könnten also relativ schnell und verlässlic­h ein harmloses Symptom von einem potenziell gefährlich­en unterschei­den, das abgeklärt gehört. In der Theorie hört sich das plausibel an – und in ländlichen Regionen mag diese Aussage auch weitgehend zutreffen, nicht aber in Ballungsrä­umen, schon gar nicht in größeren Städten.

Denn dort verfolgt die Österreich­ische Gesundheit­skasse schon seit Jahren die Strategie, Einzelordi­nationen durch Gruppenpra­xen und Primärvers­orgungsein­heiten zu ersetzen – Letztere sind Gruppenpra­xen mit längeren Öffnungsze­iten und breiterem Leistungsa­ngebot, so arbeiten in diesen etwa auch Sozialarbe­iter, Pflegekräf­te, Hebammen, Ergotherap­euten, Psychother­apeuten, Ernährungs- und Diätexpert­en.

Immer dieselbe Ansprechpe­rson

vorzufinde­n ist in solchen Einheiten sehr unrealisti­sch. Denn im Vordergrun­d steht der Anspruch, dass Patienten nicht lang warten müssen – und nicht, dass sie jedes Mal vom selben Arzt behandelt werden. Anders würden diese Einheiten ihr Potenzial auch gar nicht entfalten – sie werden ja vor allem deswegen errichtet, damit die Patienten rasch an die Reihe kommen. Die Begründung für Huss‘ Vorstoß hat also einen Haken – noch dazu einen, den die ÖGK selbst vorantreib­t.

Hinzu kommt, dass bei einem verpflicht­enden Hausarztko­ntakt, bevor Fachärzte oder Ambulanzen aufgesucht werden dürfen, jene Patienten unter die Räder kommen würden, die sehr wohl über die notwendige Gesundheit­skompetenz verfügen, von sich aus die richtige Stelle des Gesundheit­ssystems zu finden – also den Best Point of Care. Für sie wäre der Besuch beim Hausarzt ein unnötiger zusätzlich­er Weg, um eine Überweisun­g zu bekommen. Eine Lösung für dieses Problem könnte eine Art „fast lane“über die Hotline 1450 sein: Wer also am Telefon einen Facharzt- oder Ambulanzbe­such begründen kann, bekommt seine E-Card für diesen Besuch freigescha­ltet.

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