Haubenstocks „Amerika“: Eine Oper wie eine Mondlandung
Es ist das kühnste Opernprojekt der musikalischen Avantgarde: Sebastian Baumgarten fand dazu im Kafka-Text die Realität im Absurden.
Berlin sprach 1966 von einem Skandal, Graz Anfang der 90er von einer Wiederentdeckung. Ein Projekt wie dieses kommt vom Aufwand her jedenfalls einer künstlerischen Mondlandung gleich. 2024 gelang der Versuch. Das Opernhaus Zürich beweist mit seiner Produktion von „Amerika“nach Kafkas unvollendetem Roman, adaptiert und in Musik gesetzt von Roman Haubenstock-Ramati: Erstens ist das Werk der einzig radikale Versuch geblieben, eine Oper in avantgardistischem Geist zu schreiben; zweitens kann nach der Premiere keine Operndirektion mehr behaupten, dieser Solitär sei an einem Haus, das nebenher auch noch Mozart, Verdi und Wagner spielen müsse, unrealisierbar.
Die erste Aufführung der von Gabriel Feltz dirigierten, von Sebastian Baumgarten in Szene gesetzten Produktion fand nicht nur im Kafka-Jahr, sondern akkurat an Roman Haubenstock-Ramatis 30. Todestag statt. Zufall, sollte „Amerika“in Zürich doch bereits vor der Pandemie herauskommen. Förmlich höre ich den Komponisten den Lobpreis des Zufalls sprechen, den er in vielen Gesprächen als seinen Lieblingsarrangeur beschwor. So las Haubenstock Kafka, so arrangierte er die Stationen von Karl Roßmanns surrealistischer Reise.
Kafkas Wirrwarr explodiert im offenen Kunstwerk, das Haubenstock-Ramati daraus gemacht hat. Es entfaltet sich in einen mehrdimensionalen Kunstraum, dessen Klänge der Komponist mit einer völlig neuen, bildnerisch angereicherten Notation illustriert: Es braucht die vom Komponisten stets geforderte Kombination aus reicher Fantasie und minutiösem Studium peinlich genau beschriebener akustischer Prozesse, um auf dieser Landkarte nach Amerika zu finden.
Junge Sänger stellen alles auf den Kopf
Die Klänge sollen aus allen Richtungen kommen, heute schafft die Technik jenen mehrdimensionalen Klangraum mühelos, und eine junge Sängergeneration stellt ohne Scham alles auf den Kopf, was in den Konservatorien in Sachen Belcanto gelehrt wird. Das gehört dazu. Für eine Mojca Erdmann zumal, von der man längst weiß, dass sie durch keine Zwölftonreihe der Welt aus ihrer Vokalistenspur fliegt. Sie filetiert kurze Phrasen und atemberaubende Koloratur-Fragmente nach Herzenslust, um sie hier schüchtern, da sadistisch klingen zu lassen – das Dienstmädchen Therese, die gefährliche Klara, sind sie dieselbe Person? Kafkas und Haubenstocks kubistisch durcheinandergewürfelte Handlungsfragmente lassen solche Fragen gar nicht zu. Oder entlarven sie als falsch gestellt.
Paul Curievici alias Karl Roßmann scheint sich denn auch in diesem Rebus rettungslos zu verheddern, wie die Zuschauer, mit denen er aber an ein, zwei Momenten des vertrackten Spiels plötzlich frech extemporierend kokettiert – das ist eine Virtuosität im Sinne des „offenen Kunstwerks“, die sich vielleicht nicht einmal der Komponist erträumen hätte können. Eine neue Interpretengeneration erobert sich ein immer noch hochkomplexes Stück, um es für ein mittlerweile nicht mehr aggressiv ablehnendes, sondern neugierig staunendes Publikum aufzubereiten.
Und weil es ohnehin schon schwer genug ist, bei Kafka, erst recht bei Haubenstock zwischen Tragödie und Groteske, Schmerzenskrampf und Slapstick zu unterscheiden, haben Regisseur Baumgarten und Ausstatterin Christina Schmitt die Episoden etwa dort belassen, wo sie bei Kafka siedeln, ein Heizraum ist ein Heizraum, eine Hotellobby eine Hotellobby – und in den „Vermutungen über ein dunkles Haus“blitzen die Blicke auf ein unheimliches Gebäude und dessen Innenleben synchron mit den akustischen Überblendungen von zugespielten und realen Streicher-Klängen. Gabriel Fritz hat sie mit dem Orchester der Zürcher Oper in fantastischer Akribie realisiert hat und koordiniert sie live souverän.
Ins Kontinuum dieser exquisiten gesamtkunstwerklichen Bastelarbeit fügen sich Bravour-Szenen von Solisten wie Allison Cook, die als abgetakelte Diseuse Brunelda die Show ihres Lebens absolviert. Der von Takao Baba geleitete Bewegungschor verbiegt sich in jedem Tempo in höchster artistischer Beherrschung. Knapp vor dem Ende, das wie der Anfang in jeder Hinsicht im Dunkeln bleibt, kulminiert die Performance im Pandämonium des „Großen Naturtheaters von Oklahoma“. Da weiß dann wirklich niemand mehr, wo oben und unten, wo Hölle oder Himmel sein könnten. Neuen Deutungen des kühnsten Opernprojekts der Avantgarde steht jetzt, wo die Zürcher es aus dem Odium der Unspielbarkeit erlöst haben, nichts mehr im Wege.