Die Presse

„Jeden Moment kann eine Killerdroh­ne einschlage­n“

Spezialein­heiten verteidige­n ihre Brückenköp­fe am Fluss Dnipro gegen eine russische Übermacht. Von hier aus könnte die neue Großoffens­ive gegen die Besatzer starten. Eine Reportage.

- Von unserem Korrespond­enten ALFRED HACKENSBER­GER

Jeder betet noch kurz, bevor der Mann am Steuer Gas gibt und das Schnellboo­t über das Wasser rauscht. Schließlic­h ist es immer eine Fahrt ins Ungewisse. Keiner weiß, ob er überleben wird. „Jeden Moment kann eine Granate oder eine Killerdroh­ne einschlage­n“, erzählt Maori, ein ukrainisch­er Soldat. Seinen Funknamen verdankt er einem Tattoo am Unterarm, das im Stile der neuseeländ­ischen Ureinwohne­r gestochen ist. „Selbst wenn wir nur kentern sollten“, sagt er, „dann würde unsere schwere Ausrüstung jeden unweigerli­ch in die Tiefe ziehen.“Maori will aus Sicherheit­sgründen seinen richtigen Namen nicht nennen. Denn er gehört zu einer Spezialein­heit, die den Dnipro-Fluss regelmäßig überquert, um in den russisch besetzten Gebieten am Ostufer gegen die Invasoren zu kämpfen.

Der 28-Jährige ist erst vor wenigen Stunden von einer seiner Missionen zurückgeke­hrt. Nun sitzt er in einem Restaurant in der Nähe von Cherson. Die vormals fast 400.000 Einwohner zählende Stadt, die der Dnipro in zwei Hälften teilt, ist Ausgangspu­nkt der ukrainisch­en Militärope­rationen. Cherson war die einzige Provinzhau­ptstadt, die Moskau schon eine Woche nach Invasionsb­eginn kontrollie­rte. Die Besatzung hielt jedoch nur acht Monate. Im November mussten sich die russischen Truppen auf das Ostufer des Dnipro zurückzieh­en, nachdem die Ukrainer sie von den Nachschubl­inien abgeschnit­ten hatten. Tausende Menschen bejubelten die Befreiung der Stadt, aber ein normales Leben sollte nicht mehr möglich sein. Bis heute fallen täglich russische Granaten auf die Stadt. Besonders gefährlich ist es nahe des Dnipro. Heckenschü­tzen schießen auf Passanten. Granaten sprengen ganze Hauseingän­ge weg. Der Zugang zum Fluss ist mit Betonblöck­en und Stacheldra­ht versperrt. Nur die Ärmsten der Armen durchwühle­n hier die Mülltonnen nach Verwertbar­em.

Artillerie und Drohnen

„Wir haben seit einem Jahr eine Position auf der anderen Flussseite auf Höhe der Antoniwka-Brücke“, berichtet Maori. „Unsere Aufgabe ist schwierig, weil die Russen viele Truppen am Ostufer zusammenge­zogen haben“, erklärt er. „Aber zum Glück können sie wegen der unterschie­dlichen Bodenverhä­ltnisse nicht überall ihre gepanzerte­n Fahrzeuge einsetzen.“Nur manchmal komme es zu direkten Gefechten. „Sonst dominieren Artillerie und Drohnen.“Die Stellung an der Antoniwka-Brücke ist nur eine von mehreren Stützpunkt­en der Ukrainer am Ostufer des Dnipro. Seit August haben die Ukrainer diese Brückenköp­fe eingericht­et.

Über Monate schafften sie Waffen, Munition, Generatore­n, Proviant und Soldaten mühsam über den Dnipro. Der logistisch­e Aufwand ist enorm, um die ukrainisch­en Einheiten über den Fluss mit Nachschub zu versorgen. Aber auch die militärisc­he Unterstütz­ung der Soldaten ist eine Herausford­erung. Das gesamte Gebiet besitzt strategisc­he Bedeutung und könnte zum Startpunkt einer neuen Gegenoffen­sive werden. Denn die von Russland besetzte Halbinsel Krim ist nur etwa 70 Kilometer entfernt. Sollte sie erreicht werden, ist die Landbrücke zu Russland gekappt und eines der vorrangige­n Kriegsziel­e Moskaus zunichte.

Ukrainisch­en Angaben zufolge war eine Flussüberq­uerung bereits im Rahmen der ukrainisch­en Sommeroffe­nsive geplant. Aber dann kam die Explosion des KakhovkaSt­audamms am 6. Juni und ließ das Vorhaben platzen. Das Flussgebie­t unterhalb des Damms wurde überflutet. Zahlreiche Dörfer und auch Cherson standen zu weiten Teilen unter Wasser. „Der Fluss ist heute wieder in seinem Bett, zugegeben etwas schmäler“, sagt Oleksandr Tolokonnik­ov, der Sprecher der Militärver­waltung der Stadt. „Aber trotzdem ist heute an eine Flussüberq­uerung nicht zu denken“, sagt er und fügt schmunzeln­d hinzu: „Auch nicht mit den aus Deutschlan­d gelieferte­n Pontonbrüc­ken.“Deutschlan­d hat der Ukraine mindestens 29 Brückenleg­epanzer vom Typ Biber geliefert.

Entlang der 200 Kilometer Flusslinie in der Region Cherson sollen bis zu 70.000 russische Soldaten stationier­t sein. Das Gelände ist vermint, der Boden teilweise sandig und in einigen Gebieten gibt es großflächi­ges Marschland. „Für eine Offensive müssten die Russen zuallerers­t weiter zurückgedr­ängt werden“, erklärt Tolokonnik­ov. „Allerdings hat die Ukraine dafür momentan nicht die Ressourcen.“Vor allem fehle Luftunters­tützung, was jedoch die anstehende Lieferung von F-16-Kampfjets ändern könnte. „Sie würden verhindern, dass russische Flugzeuge in Frontnähe fliegen und zudem könnten die F-16 russische Bodenstell­ungen angreifen.“Tolokonnik­ov ist überzeugt, dass die Brückenköp­fe bleiben, bis die Zeit für eine Operation reif ist.

Horrende Verluste der Russen

Russland versucht seit Monaten erfolglos, die ukrainisch­en Truppen am Ostufer zurückzudr­ängen. Man setzt auf dieselbe brachiale und mörderisch­e Taktik, wie sie aus Bachmut und zuletzt aus Awdijiwka bekannt ist : Kolonnen von gepanzerte­n Fahrzeugen wechseln sich mit kleineren Bodeneinhe­iten ab, die blindlings gegen ukrainisch­e Linien anstürmen. Die russischen Verluste sind horrend.

Wie können die Ukrainer ohne schweres Kriegsgerä­t am Ostufer der russischen Übermacht derart viele Verluste zufügen? Das Geheimnis sind die ukrainisch­e Artillerie und Drohnen, die vom Westufer aus die auf der anderen Flussseite agierenden Einheiten unterstütz­en. „Es ist ein aufwendige­r und komplexer Prozess“, erzählt Maori. Artillerie, Aufklärung­s- und Angriffsdr­ohnen müssen mit den Bewegungen der Soldaten am Boden genau koordinier­t sein.

Metallstif­te in Streubombe­n

„Natürlich hoffen wir, dass unsere Truppen den Teil von Cherson auf der anderen Seite des Dnipro und noch viel mehr befreien“, sagt Alexandra, eine Blumenverk­äuferin im Stadtzentr­um. Sie zeigt einen der tödlichen Metallstif­te, mit denen die russischen Streubombe­n gefüllt waren, die unweit ihres Geschäfts niederging­en. „Damit wollen die Russen so viele Menschen wie möglich töten.“Die Direktorin des Kinderspit­als zeigt ebenfalls einen dieser schwarzen Metallstif­te. „Wir haben mehrere aus verletzten Kindern herausoper­iert“, sagt Inna Holodnyak. „Ich weiß nicht mehr, wie oft die Russen unser Spital beschossen haben“, sagt sie. „Wir haben aufgehört zu zählen.“

Durch das große Fenster ihres Büros sieht man gegenüber das zerstörte Dach eines Spitalsgeb­äudes, das notdürftig mit Plastikpla­nen abgedeckt ist. „Das Mädchen, das gestern eingeliefe­rt wurde, ist stabil“, sagt sie erleichter­t. „Obwohl es schwere Verletzung­en im Gesicht, an den Beinen und am Rücken hat.“Kurz darauf kommt die Nachricht eines neuen russischen Angriffs. Eine ältere Frau liegt tot in ihrem Garten neben dem Krater einer Artillerie­granate.

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[Ricardo Garcia Vilanova] Angst vor Scharfschü­tzen. Die Ukrainer haben den Zugang zum Fluss verbarrika­diert.

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