„Jeden Moment kann eine Killerdrohne einschlagen“
Spezialeinheiten verteidigen ihre Brückenköpfe am Fluss Dnipro gegen eine russische Übermacht. Von hier aus könnte die neue Großoffensive gegen die Besatzer starten. Eine Reportage.
Jeder betet noch kurz, bevor der Mann am Steuer Gas gibt und das Schnellboot über das Wasser rauscht. Schließlich ist es immer eine Fahrt ins Ungewisse. Keiner weiß, ob er überleben wird. „Jeden Moment kann eine Granate oder eine Killerdrohne einschlagen“, erzählt Maori, ein ukrainischer Soldat. Seinen Funknamen verdankt er einem Tattoo am Unterarm, das im Stile der neuseeländischen Ureinwohner gestochen ist. „Selbst wenn wir nur kentern sollten“, sagt er, „dann würde unsere schwere Ausrüstung jeden unweigerlich in die Tiefe ziehen.“Maori will aus Sicherheitsgründen seinen richtigen Namen nicht nennen. Denn er gehört zu einer Spezialeinheit, die den Dnipro-Fluss regelmäßig überquert, um in den russisch besetzten Gebieten am Ostufer gegen die Invasoren zu kämpfen.
Der 28-Jährige ist erst vor wenigen Stunden von einer seiner Missionen zurückgekehrt. Nun sitzt er in einem Restaurant in der Nähe von Cherson. Die vormals fast 400.000 Einwohner zählende Stadt, die der Dnipro in zwei Hälften teilt, ist Ausgangspunkt der ukrainischen Militäroperationen. Cherson war die einzige Provinzhauptstadt, die Moskau schon eine Woche nach Invasionsbeginn kontrollierte. Die Besatzung hielt jedoch nur acht Monate. Im November mussten sich die russischen Truppen auf das Ostufer des Dnipro zurückziehen, nachdem die Ukrainer sie von den Nachschublinien abgeschnitten hatten. Tausende Menschen bejubelten die Befreiung der Stadt, aber ein normales Leben sollte nicht mehr möglich sein. Bis heute fallen täglich russische Granaten auf die Stadt. Besonders gefährlich ist es nahe des Dnipro. Heckenschützen schießen auf Passanten. Granaten sprengen ganze Hauseingänge weg. Der Zugang zum Fluss ist mit Betonblöcken und Stacheldraht versperrt. Nur die Ärmsten der Armen durchwühlen hier die Mülltonnen nach Verwertbarem.
Artillerie und Drohnen
„Wir haben seit einem Jahr eine Position auf der anderen Flussseite auf Höhe der Antoniwka-Brücke“, berichtet Maori. „Unsere Aufgabe ist schwierig, weil die Russen viele Truppen am Ostufer zusammengezogen haben“, erklärt er. „Aber zum Glück können sie wegen der unterschiedlichen Bodenverhältnisse nicht überall ihre gepanzerten Fahrzeuge einsetzen.“Nur manchmal komme es zu direkten Gefechten. „Sonst dominieren Artillerie und Drohnen.“Die Stellung an der Antoniwka-Brücke ist nur eine von mehreren Stützpunkten der Ukrainer am Ostufer des Dnipro. Seit August haben die Ukrainer diese Brückenköpfe eingerichtet.
Über Monate schafften sie Waffen, Munition, Generatoren, Proviant und Soldaten mühsam über den Dnipro. Der logistische Aufwand ist enorm, um die ukrainischen Einheiten über den Fluss mit Nachschub zu versorgen. Aber auch die militärische Unterstützung der Soldaten ist eine Herausforderung. Das gesamte Gebiet besitzt strategische Bedeutung und könnte zum Startpunkt einer neuen Gegenoffensive werden. Denn die von Russland besetzte Halbinsel Krim ist nur etwa 70 Kilometer entfernt. Sollte sie erreicht werden, ist die Landbrücke zu Russland gekappt und eines der vorrangigen Kriegsziele Moskaus zunichte.
Ukrainischen Angaben zufolge war eine Flussüberquerung bereits im Rahmen der ukrainischen Sommeroffensive geplant. Aber dann kam die Explosion des KakhovkaStaudamms am 6. Juni und ließ das Vorhaben platzen. Das Flussgebiet unterhalb des Damms wurde überflutet. Zahlreiche Dörfer und auch Cherson standen zu weiten Teilen unter Wasser. „Der Fluss ist heute wieder in seinem Bett, zugegeben etwas schmäler“, sagt Oleksandr Tolokonnikov, der Sprecher der Militärverwaltung der Stadt. „Aber trotzdem ist heute an eine Flussüberquerung nicht zu denken“, sagt er und fügt schmunzelnd hinzu: „Auch nicht mit den aus Deutschland gelieferten Pontonbrücken.“Deutschland hat der Ukraine mindestens 29 Brückenlegepanzer vom Typ Biber geliefert.
Entlang der 200 Kilometer Flusslinie in der Region Cherson sollen bis zu 70.000 russische Soldaten stationiert sein. Das Gelände ist vermint, der Boden teilweise sandig und in einigen Gebieten gibt es großflächiges Marschland. „Für eine Offensive müssten die Russen zuallererst weiter zurückgedrängt werden“, erklärt Tolokonnikov. „Allerdings hat die Ukraine dafür momentan nicht die Ressourcen.“Vor allem fehle Luftunterstützung, was jedoch die anstehende Lieferung von F-16-Kampfjets ändern könnte. „Sie würden verhindern, dass russische Flugzeuge in Frontnähe fliegen und zudem könnten die F-16 russische Bodenstellungen angreifen.“Tolokonnikov ist überzeugt, dass die Brückenköpfe bleiben, bis die Zeit für eine Operation reif ist.
Horrende Verluste der Russen
Russland versucht seit Monaten erfolglos, die ukrainischen Truppen am Ostufer zurückzudrängen. Man setzt auf dieselbe brachiale und mörderische Taktik, wie sie aus Bachmut und zuletzt aus Awdijiwka bekannt ist : Kolonnen von gepanzerten Fahrzeugen wechseln sich mit kleineren Bodeneinheiten ab, die blindlings gegen ukrainische Linien anstürmen. Die russischen Verluste sind horrend.
Wie können die Ukrainer ohne schweres Kriegsgerät am Ostufer der russischen Übermacht derart viele Verluste zufügen? Das Geheimnis sind die ukrainische Artillerie und Drohnen, die vom Westufer aus die auf der anderen Flussseite agierenden Einheiten unterstützen. „Es ist ein aufwendiger und komplexer Prozess“, erzählt Maori. Artillerie, Aufklärungs- und Angriffsdrohnen müssen mit den Bewegungen der Soldaten am Boden genau koordiniert sein.
Metallstifte in Streubomben
„Natürlich hoffen wir, dass unsere Truppen den Teil von Cherson auf der anderen Seite des Dnipro und noch viel mehr befreien“, sagt Alexandra, eine Blumenverkäuferin im Stadtzentrum. Sie zeigt einen der tödlichen Metallstifte, mit denen die russischen Streubomben gefüllt waren, die unweit ihres Geschäfts niedergingen. „Damit wollen die Russen so viele Menschen wie möglich töten.“Die Direktorin des Kinderspitals zeigt ebenfalls einen dieser schwarzen Metallstifte. „Wir haben mehrere aus verletzten Kindern herausoperiert“, sagt Inna Holodnyak. „Ich weiß nicht mehr, wie oft die Russen unser Spital beschossen haben“, sagt sie. „Wir haben aufgehört zu zählen.“
Durch das große Fenster ihres Büros sieht man gegenüber das zerstörte Dach eines Spitalsgebäudes, das notdürftig mit Plastikplanen abgedeckt ist. „Das Mädchen, das gestern eingeliefert wurde, ist stabil“, sagt sie erleichtert. „Obwohl es schwere Verletzungen im Gesicht, an den Beinen und am Rücken hat.“Kurz darauf kommt die Nachricht eines neuen russischen Angriffs. Eine ältere Frau liegt tot in ihrem Garten neben dem Krater einer Artilleriegranate.