Das Anthropozän ist jetzt abgesagt
Wie stark verändern wir den Planeten? In diesem Sommer wollten Geologen ein neues Erdzeitalter ausrufen. Kurz vor dem Ziel haben Kollegen sie überraschend gestoppt.
In Kulturkreisen und unter Bildungsbürgern gehört es längst zum aktiven Wortschatz: das Anthropozän. Auch in der Literatur und auf der Bühne hat es eine Heimstatt gefunden. Stets verbunden mit der bitteren Klage: Wir Menschen richten den Planeten so zu, hinterlassen so tiefe Spuren und Wunden, dass wir damit ein neues Erdzeitalter lostreten. Es ist von uns zu verantworten und deshalb nach uns zu benennen. Freilich hat es auch Konsequenzen, das aktuelle Holozän zu Grabe zu tragen, das schon so lang, seit dem Ende der letzten Eiszeit, stabil vor sich hingelaufen ist. Nicht nur, weil man Lehrbücher umschreiben muss: In einer neuen Ära zu leben prägt auch unser Selbstverständnis für Generationen, ja vielleicht für Jahrhunderte (wenn es uns dann noch gibt).
Doch zu entscheiden haben über den neuen Strich in der Zeitleiste die Geologen. Sie teilen die Erdgeschichte in Epochen ein, die sich weltweit in den Gesteinsschichten deutlich abzeichnen. Seit eineinhalb Jahrzehnten prüfen Experten, ob die Zeit reif ist, das Anthropozän auszurufen. Die dafür eingesetzte Arbeitsgruppe mit rund 40 Mitgliedern hat es klar bejaht, nach eingehenden Beratungen und Untersuchungen. Sie hat auch einen Startpunkt festgesetzt: um 1950, mit den ersten Atombombentests. Und einen Referenzort für die weitere geologische Forschung: den Crawford Lake in Kanada. Auf dem Grund dieses Sees, einer eingestürzten Karsthöhle, bilden sich Jahresringe aus transparentem Kalk, unter dem abgelagerte Stoffe aus der Umwelt sichtbar sind, fast wie in einem Archiv.
In diesem Sommer sollte das Zeitalter der Menschen auf einem Kongress in Südkorea offiziell ausgerufen werden. Aber zuvor hätte der Vorschlag noch drei Komitees der Internationalen Geologengesellschaft passieren müssen. Schon die Mitglieder der ersten haben nun überraschend ihr Veto eingelegt, sogar mit deutlicher Mehrheit. Dahinter steht ein Machtkampf, der offenbar kurz vor dem Ziel in eine Sackgasse geführt hat.
Nur ein Ereignis, keine Epoche
Worum geht es? Ein Erdzeitalter ist durch gravierende Entwicklungen markiert, wie den Untergang der Saurier, den Aufstieg der Säugetiere oder Eiszeiten. Kein Geologe bestreitet, dass sich das Treiben der Menschen im Gestein widerspiegelt: durch die Radionuklide aus Atombombentests, Mikroplastik, Pestizide, den Stickstoff und Phosphor aus Düngemitteln oder Rußpartikel aus dem Verbrennen fossiler Rohstoffe. Dazu kommen, wenn auch etwas indirekter, die Folgen der menschengemachten Erderwärmung und des Artensterbens. Aber bewirkt das alles wirklich grundlegende Änderungen in den Gesteinsschichten? Eine neue geologische Epoche, die zudem genau und weltweit einheitlich zu datieren ist?
Es gibt eine gelindere Alternative: ein geologisches Ereignis. Das kann den Weltenlauf an der Oberfläche durchaus massiv beeinflussen: Frühere Ereignisse waren Massenaussterben, rasche Erweiterungen der Biodiversität oder die Anreicherung der Atmosphäre mit Sauerstoff vor gut zwei Milliarden Jahren. Aber dafür braucht man kein genaues Startdatum. Ein solches bleibt beim Anthropozän umstritten: Ein Teil der Kritiker setzt den menschlichen Einfluss viel früher an, etwa mit dem Aufkommen der Landwirtschaft oder der industriellen Revolution.
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe, die das Anthropozän so klar auf Schiene gesetzt haben, sind nun enttäuscht, machen aber unbeirrt weiter. Sie überlegen auch, die Abstimmung des Komitees anzufechten. Aber es sieht so aus, als ob der Mensch auf sein offizielles Zeitalter vorerst verzichten muss. Stolz dürfte er darauf ohnehin nicht sein.