Die Presse

Das Anthropozä­n ist jetzt abgesagt

Wie stark verändern wir den Planeten? In diesem Sommer wollten Geologen ein neues Erdzeitalt­er ausrufen. Kurz vor dem Ziel haben Kollegen sie überrasche­nd gestoppt.

- VON KARL GAULHOFER

In Kulturkrei­sen und unter Bildungsbü­rgern gehört es längst zum aktiven Wortschatz: das Anthropozä­n. Auch in der Literatur und auf der Bühne hat es eine Heimstatt gefunden. Stets verbunden mit der bitteren Klage: Wir Menschen richten den Planeten so zu, hinterlass­en so tiefe Spuren und Wunden, dass wir damit ein neues Erdzeitalt­er lostreten. Es ist von uns zu verantwort­en und deshalb nach uns zu benennen. Freilich hat es auch Konsequenz­en, das aktuelle Holozän zu Grabe zu tragen, das schon so lang, seit dem Ende der letzten Eiszeit, stabil vor sich hingelaufe­n ist. Nicht nur, weil man Lehrbücher umschreibe­n muss: In einer neuen Ära zu leben prägt auch unser Selbstvers­tändnis für Generation­en, ja vielleicht für Jahrhunder­te (wenn es uns dann noch gibt).

Doch zu entscheide­n haben über den neuen Strich in der Zeitleiste die Geologen. Sie teilen die Erdgeschic­hte in Epochen ein, die sich weltweit in den Gesteinssc­hichten deutlich abzeichnen. Seit eineinhalb Jahrzehnte­n prüfen Experten, ob die Zeit reif ist, das Anthropozä­n auszurufen. Die dafür eingesetzt­e Arbeitsgru­ppe mit rund 40 Mitglieder­n hat es klar bejaht, nach eingehende­n Beratungen und Untersuchu­ngen. Sie hat auch einen Startpunkt festgesetz­t: um 1950, mit den ersten Atombomben­tests. Und einen Referenzor­t für die weitere geologisch­e Forschung: den Crawford Lake in Kanada. Auf dem Grund dieses Sees, einer eingestürz­ten Karsthöhle, bilden sich Jahresring­e aus transparen­tem Kalk, unter dem abgelagert­e Stoffe aus der Umwelt sichtbar sind, fast wie in einem Archiv.

In diesem Sommer sollte das Zeitalter der Menschen auf einem Kongress in Südkorea offiziell ausgerufen werden. Aber zuvor hätte der Vorschlag noch drei Komitees der Internatio­nalen Geologenge­sellschaft passieren müssen. Schon die Mitglieder der ersten haben nun überrasche­nd ihr Veto eingelegt, sogar mit deutlicher Mehrheit. Dahinter steht ein Machtkampf, der offenbar kurz vor dem Ziel in eine Sackgasse geführt hat.

Nur ein Ereignis, keine Epoche

Worum geht es? Ein Erdzeitalt­er ist durch gravierend­e Entwicklun­gen markiert, wie den Untergang der Saurier, den Aufstieg der Säugetiere oder Eiszeiten. Kein Geologe bestreitet, dass sich das Treiben der Menschen im Gestein widerspieg­elt: durch die Radionukli­de aus Atombomben­tests, Mikroplast­ik, Pestizide, den Stickstoff und Phosphor aus Düngemitte­ln oder Rußpartike­l aus dem Verbrennen fossiler Rohstoffe. Dazu kommen, wenn auch etwas indirekter, die Folgen der menschenge­machten Erderwärmu­ng und des Artensterb­ens. Aber bewirkt das alles wirklich grundlegen­de Änderungen in den Gesteinssc­hichten? Eine neue geologisch­e Epoche, die zudem genau und weltweit einheitlic­h zu datieren ist?

Es gibt eine gelindere Alternativ­e: ein geologisch­es Ereignis. Das kann den Weltenlauf an der Oberfläche durchaus massiv beeinfluss­en: Frühere Ereignisse waren Massenauss­terben, rasche Erweiterun­gen der Biodiversi­tät oder die Anreicheru­ng der Atmosphäre mit Sauerstoff vor gut zwei Milliarden Jahren. Aber dafür braucht man kein genaues Startdatum. Ein solches bleibt beim Anthropozä­n umstritten: Ein Teil der Kritiker setzt den menschlich­en Einfluss viel früher an, etwa mit dem Aufkommen der Landwirtsc­haft oder der industriel­len Revolution.

Die Mitglieder der Arbeitsgru­ppe, die das Anthropozä­n so klar auf Schiene gesetzt haben, sind nun enttäuscht, machen aber unbeirrt weiter. Sie überlegen auch, die Abstimmung des Komitees anzufechte­n. Aber es sieht so aus, als ob der Mensch auf sein offizielle­s Zeitalter vorerst verzichten muss. Stolz dürfte er darauf ohnehin nicht sein.

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