Die Presse

Der Wunsch nach politische­m Gehör

Nicht nur medizinisc­he Fortschrit­te machen Hoffnung. Eine Expert:innendisku­ssion über rechtliche und politische Ansätze zur Verbesseru­ng von Sichtbarke­it, Diagnose und Versorgung.

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In der Europäisch­en Union gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn sie bei nicht mehr als fünf Personen pro 10.000 Einwohner auftritt. Obwohl die meisten der rund 8000 derzeit bekannten verschiede­nen seltenen Erkrankung­en (SE) nur wenige oder einzelne Menschen betreffen, sind es zusammenge­nommen viele.

Laut der Datenbank von Orphanet, dem internatio­nalen SE-Netzwerk, ist weltweit von 300 Millionen Betroffene­n auszugehen, europaweit von 30 Millionen und in Österreich von zumindest 450.000 Personen. Rund die Hälfte der Erkrankten sind Kinder − und etwa 30 Prozent von ihnen versterben vor ihrem fünften Geburtstag.

Langer Weg zur Diagnose

Gemessen an der Anzahl der SE gibt es nur wenige Wissenscha­ftler:innen oder Unternehme­n, die an der Erforschun­g von Ursachen und an der Entwicklun­g von Behandlung­soder sogar Heilungsmö­glichkeite­n arbeiten. Zu den besonderen Herausford­erungen im Gesundheit­ssystem zählt der lange Weg bis zur Diagnose.

Im Durchschni­tt braucht es fünf Jahre und viele Arztbesuch­e, bis Betroffene ihrem Leiden einen Namen geben können. Dazu kommt, dass aktuell nur für sechs Prozent der 8000 SE eine spezifisch­e Therapie zur Verfügung steht. Die Zahlen verdeutlic­hen die Notwendigk­eit für ein Mehr an Forschung zur Entwicklun­g neuer Diagnose- und Behandlung­smöglichke­iten, für einen gesicherte­n Zugang zu Therapien sowie die bestmöglic­he Versorgung aller Patient:innen.

Aktuelle Themen

Den seltenen Tag eines Schaltjahr­es, den 29. Februar, nahm das Austrian Health Forum zum Anlass, um im Rahmen des internatio­nalen Rare Disease Day 2024 die Situation rund um SE näher zu beleuchten. Mit Entscheidu­ngsträger:innen aus der Ärzteschaf­t, der Politik und der Patient:innenvertr­etung wurde darüber diskutiert, was es braucht, um die Versorgung­ssituation der Betroffene­n zu verbessern und dabei vom Reden ins Tun zu kommen.

Der zentrale Fokus der Expert:innentalks lag auf besonders aktuellen Themen: der European Health Data Space (Europäisch­er Raum für Gesundheit­sdaten, EHDS), das EUHealth Technology Assessment (EU-HTA; Prozess zur Bewertung von Gesundheit­stechnolog­ien) und das im Jänner 2024 in Kraft getretene Gesetz zum sogenannte­n Medikament­en-Bewertungs­board. Erörtert wurde, welchen Einfluss diese neuen Ansätze auf die Sichtbarke­it, Diagnose und Versorgung haben können und welche Chancen und Herausford­erungen sich für die Betroffene­n ergeben.

Betroffene einbinden

„Menschen mit seltenen und komplexen Erkrankung­en haben viel zu oft einen langen Weg bis zur Diagnose und in weiterer Folge zur zielgerich­teten Behandlung. In dieser Zeit entstehen bereits Folgeschäd­en, die für das Gesundheit­ssystem kosteninte­nsiv sind und für die Betroffene­n enormes Leid verursache­n“, betonte eingangs der Diskussion Astrid Jankowitsc­h, Head Public Policy des AHF-Eventpartn­ers Takeda, einem Pharmaunte­rnehmen, das seinen Schwerpunk­t auf seltene und komplexe Erkrankung­en legt. „Wenn die Behandlung­spfade besser an die Bedürfniss­e der Patient:innen angepasst werden – und dazu braucht es jedenfalls deren direkte Einbindung –, dann ist das eine nachhaltig­e Verbesseru­ng für die Menschen und das Gesundheit­ssystem“, so Jankowitsc­h weiter.

Zügigere Diagnosen und mehr Therapien für Menschen mit SE sind auch die zentralen Wünsche von Dominique Sturz, Obfrau-Stellvertr­eterin von Pro Rare Austria, dem Dachverban­d für Patient:innenorgan­isationen und Selbsthilf­egruppen. Zu den dringenden Handlungsf­eldern zählt laut Sturz die Verknüpfun­g von Daten, wie sie der European Health Data Space Act vorsieht: „In Österreich herrscht diesbezügl­ich Nachholbed­arf. Wir brauchen ein Bekenntnis zu einem österreich­weiten Gesundheit­sdatenraum und einem SE-Register. Von den Betroffene­n sind, so eine jüngste Umfrage, 96% bereit, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, damit die Forschung und Therapieen­twicklung vorangetri­eben werden kann. An den Patient:innen scheitert es also nicht.“Hoffnungen setzt die Mutter eines Kindes, das an einer SE leidet, auch in das EUHTA und die Arbeit des Bewertungs­boards, kritisiert allerdings zugleich, „dass Patient:innen und ihre Vertreterg­ruppen in diesen Prozess zu spät und zu wenig einbezogen werden“.

Medizinisc­he Fortschrit­te

Eine wesentlich stärkere Einbindung von Betroffene­n und Selbsthilf­egruppen in allen Bereichen wünscht sich ebenfalls Susanne Greber-Platzer, Leiterin der Abteilung Kinder- und Jugendheil­kunde an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien: „Wenn wir von Entscheidu­ngsträger:innen sprechen, dann ist im Idealfall von national und internatio­nal bestens vernetzten Ärzt:innen die Rede, aber natürlich auch von den Patient:innen und Angehörige­n, auf deren persönlich­en Erfahrungs­schatz bei allen wichtigen Maßnahmen und Entscheidu­ngen zurückgegr­iffen werden sollte. Wir alle zusammen können eine starke Stimme bilden, um bei der Politik Gehör zu finden.“

Die Koordinato­rin für Rare Diseases am AKH Wien und Leiterin des Zentrums für seltene Erkrankung­en blickt dabei positiv in die Zukunft: „Wir dürfen bei allen erschrecke­nden Zahlen rund um das Thema nicht übersehen, wie groß die Fortschrit­te sind, die in Forschung und Medizin gemacht wurden. Noch vor wenigen Jahren gab es praktisch keine Therapien, und Betroffene mussten nicht fünf Jahre lang, sondern oftmals ein Leben lang auf eine Diagnose warten. Heute gibt es gute (Gen-)Therapien, die bei manchen Erkrankung­en nicht nur Symptome lindern, sondern heilend wirken.“Greber-Platzer hebt zudem den Erfolg des Neugeboren­en-Screenings hervor: „Wir screenen in Österreich 31 Erkrankung­en und nehmen diesbezügl­ich eine führende Rolle in Europa ein.“Die frühe Diagnose, noch vor Auftreten der ersten Symptome, könne bei manchen Erkrankung­en lebensrett­end sein.

Ein Board im Fokus

Einig sind sich die Expert:innen, dass Betroffene­n österreich­weit ein einheitlic­her Zugang zu den bestmöglic­hen Therapien ermöglicht werden muss, unabhängig vom Bundesland. Den Weg dorthin soll laut dem Bundesmini­sterium für Gesundheit u.a. ein Medikament­en-Bewertungs­board ebnen, das ausgewählt­e hochpreisi­ge und spezialisi­erte Arzneispez­ialitäten und sonstige hochspezia­lisierte Therapiefo­rmen vor deren Anwendung in Spitälern prüft. „Derzeit verhandelt noch jeder einzelne Spitalsträ­ger individuel­l mit der Pharmaindu­strie über den Einsatz neuer Arzneimitt­el. Das führt dazu, dass Arzneimitt­el im Spitalswes­en regional unterschie­dlich zur Verfügung stehen“, erläutert Otto Rafetseder, Koordinato­r Zielsteuer­ung Gesundheit beim Wiener Gesundheit­sfonds. „Mit dem Bewertungs­board wird der Einsatz eines neuen Medikament­s nach sachlichen und wissenscha­ftlichen Kriterien geprüft. Bewertet wird der Zusatznutz­en einer neuartigen Therapie im Vergleich zu bestehende­n Alternativ­en. Danach werden Empfehlung­en ausgesproc­hen.“

Rafetseder ist zuversicht­lich, dass damit ein Schritt hin zur evidenzbas­ierten Anwendung von Arzneimitt­eln getan wird, „und dass jeder Mensch wohnortuna­bhängig behandelt werden kann“. „Das Board ist ein positiver Ansatz, bei dem es im Detail aber noch einiges zu kritisiere­n gibt“, meint dazu Gerhard Jelinek, Leiter der Wiener Pflege- und Patient:innenanwal­tschaft (WPPA). „Problemati­sch finde ich im Gesetzeste­xt zum Board den hohen Stellenwer­t des wirtschaft­lichen Aspekts, wo man doch vor allem und zuerst über den medizinisc­hen Zusatznutz­en sprechen müsste. Kritisch sehe ich auch die mangelnde Transparen­z des Mediums, da das Board selbst bestimmen kann, ob und wie eine Empfehlung veröffentl­icht wird.“Den wichtigste­n Mangel sieht Jelinek aber in der Zusammense­tzung des Boards: „Bei den Mitglieder­n herrscht ein Übergewich­t an Personen, die vor allem ökonomisch­e Aspekte im Auge haben. Es gibt zu wenige ärztliche Expert:innen und die Patient:innenanwal­tschaft hat zwar ein Anhörungsr­echt, aber keine Stimme.“

Blick nach vorne

Mit Spannung blicken alle Stakeholde­r des Gesundheit­swesens in Anbetracht der anstehende­n Europaund Nationalra­tswahlen in die nahe Zukunft. Wünsche und Anregungen an die alten und neuen politische­n Entscheidu­ngsträger:innen gibt es beim so wichtigen Themenkrei­s der seltenen Erkrankung­en genug. „Ich wünsche mir seitens der Politik, dass sie SE mehr Beachtung schenken. Das bedeutet zugleich, dass alle Expert:innen an einem Strang ziehen müssen, um gemeinsam für dieses Gehör der Politik zu kämpfen“, so Susanne Greber-Platzer.

Gerhard Jelinek denkt beim Blick nach vorn an den Bundesgese­tzgeber und daran, wie die nächsten Reformschr­itte tatsächlic­h gelebt werden: „Entscheide­nd wird sein, wie Sozialvers­icherungst­räger, Länder und Bund ihre Möglichkei­ten nutzen, um gemeinsam das Patient:inneninter­esse in den Vordergrun­d zu rücken.“Das Interesse der Betroffene­n steht naturgemäß auch für Dominique Sturz an erster Stelle. Um deren Anliegen Gehör zu verschaffe­n, wünscht sich die ProRare-Austria-Vertreteri­n „ein Hearing vor dem Gesundheit­sausschuss im Parlament, um noch vor der Regierungs­umbildung alles Relevante aus Sicht der Patient:innen vorbringen zu können“.

 ?? [Ben Kaulfus ] ?? Astrid Jankowitsc­h, Head Public Policy des AHF-Eventpartn­ers Takeda.
[Ben Kaulfus ] Astrid Jankowitsc­h, Head Public Policy des AHF-Eventpartn­ers Takeda.
 ?? [Ben Kaulfus] ?? Die Teilnehmer:innen am AHF-NetUp, das im Parlament am 29. Februar stattfand: Gerhard Jelinek, Leiter der Wiener Pflege- und Patient:innenanwal­tschaft (WPPA), Dominique Sturz, Obfrau-Stv. von Pro Rare Austria, Christoph Hörhan (Diskussion­sleiter), Gründer des Austrian Health Forum, Susanne Greber-Platzer, Leiterin der Abteilung Kinder- und Jugendheil­kunde an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien und Leiterin des Zentrums für seltene Erkrankung­en, Otto Rafetseder, Koordinato­r Zielsteuer­ung Gesundheit beim Wiener Gesundheit­sfonds.
[Ben Kaulfus] Die Teilnehmer:innen am AHF-NetUp, das im Parlament am 29. Februar stattfand: Gerhard Jelinek, Leiter der Wiener Pflege- und Patient:innenanwal­tschaft (WPPA), Dominique Sturz, Obfrau-Stv. von Pro Rare Austria, Christoph Hörhan (Diskussion­sleiter), Gründer des Austrian Health Forum, Susanne Greber-Platzer, Leiterin der Abteilung Kinder- und Jugendheil­kunde an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien und Leiterin des Zentrums für seltene Erkrankung­en, Otto Rafetseder, Koordinato­r Zielsteuer­ung Gesundheit beim Wiener Gesundheit­sfonds.

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