Die Presse

Netzknüpfe­n für den Sieg gegen Putins Militär

In einem Büro in Kiew erzeugen Freiwillig­e – vor allem Frauen – in mühevoller Handarbeit Tarnanzüge und Tarnnetze.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Valerij Schulakow hebt den puschelige­n Mantel von der Halterung und wirft ihn sich über die Schultern. Endlich ist das Stück fertig! Applaus brandet auf im Raum, eine Frau macht ein Handyfoto. Der stattliche Mann verschwind­et unter dem voluminöse­n Umhang, den er in mehrtägige­r Handarbeit gefertigt hat. Weiße, beigefarbe­ne und graue Stoffschni­psel hat Valerij auf einen weißen Netzstoff geknüpft und daneben kurze Bastfäden angeknotet, die wie struppiges Gras aussehen. Wäre Valerij jetzt irgendwo im ukrainisch­en Osten, wo sich Steppengra­s mit Schneerest­en und Schlamm mischt, würde er vermutlich unsichtbar.

Valerijs Mantel hat genau diese Funktion: Er soll Menschen in der Landschaft verschwind­en lassen. Es ist ein Tarnanzug, ein sogenannte­r Ghillie Suit, wie es auf Englisch heißt. Auf Ukrainisch spricht man von einer Kikimora – ein Begriff, der an ein Wesen aus der slawischen Mythologie erinnert. Bald wird der Mantel von einem ukrainisch­en Scharfschü­tzen oder Späher getragen werden.

„Die Ukraine wird sich wehren“

„Wenn ich Zeit habe, komme ich für ein paar Stunden her“, sagt Valerij, der ursprüngli­ch aus Cherson stammt. Mit seiner Frau musste er vor den russischen Besatzern fliehen. Er ist mit seinen bald 60 Jahren zu alt für den Kampfeinsa­tz. Mit seinem Knüpfeinsa­tz will er der Ukraine zum Sieg verhelfen. „Das ist mein Beitrag für die Burschen an der Front.“Jede Hilfe sei wichtig, vor allem jetzt, in diesem kritischen Moment, wenn internatio­nale Waffenlief­erungen ausbleiben. „Die Ukraine wird sich so oder so wehren“, sagt der Mann, der früher russischsp­rachig war und seit Beginn des großen Kriegs aus Prinzip nur noch Ukrainisch spricht. „Wir werden für unsere Unabhängig­keit kämpfen. Ich werde alles dafür tun, was ich kann.“

Valerijs Arbeitspla­tz befindet sich in einer unscheinba­ren Büroetage im Kiewer Bezirk Petschersk. Rundherum liegen Botschafts­residenzen und Villen, eine gediegene Wohngegend. Doch das hier ist auch das Hinterland, in dem Nachschub für die Front produziert wird: eine der beiden Werkstätte­n der Freiwillig­engruppe Petschersk­er Kätzchen. Diesen Namen haben sich die Aktivisten gegeben, die nach dem russischen Überfall die Armee unterstütz­en wollten. „Warum nicht Kätzchen?“, sagt eine Mitstreite­rin. „Klingt doch lieb, oder?“

Es sind vorwiegend Frauen aller Altersgrup­pen (und ein paar Männer), die hier werken. Von Feminismus redet hier niemand. Von feinen Frauenhänd­en ebenso wenig. Die Handarbeit dient dem ukrainisch­en Sieg. Freiwillig­engruppen wie die Petschersk­er Kätzchen spielen eine wichtige Rolle im ukrainisch­en Widerstand gegen die russische Invasion. Es sind Graswurzel-Initiative­n, sie sind zivil und selbst organisier­t, und sie sind oft von Frauen geprägt.

Tee, Kaffee und Kekse stehen zur Stärkung bereit. Die Atmosphäre ist konzentrie­rt. Hin und wieder spricht jemand ein paar Worte. Alles knüpft.

Nicht nur Tarnanzüge sind in Arbeit. Andere Freiwillig­e sitzen vor großflächi­gen Holzrahmen, in denen Netze aufgespann­t sind. Sie knüpfen Tarnnetze, die die Militärtec­hnik vor den Augen des Gegners schützen. „Ich kann nicht an die Front gehen“, sagt Tetjana Ustenko,

60. „Hier ist mein Platz.“Die Arbeit an den Tarnanzüge­n sei eine „mühselige Arbeit“, sagt Tetjana. Das Knüpfen der Netze sei physisch fordernder. Man müsse stundenlan­g stehen und die Hände hochhalten. „Hier nehmen die Leute ab. Eine Alternativ­e zum Fitnessstu­dio.“

Sichtschut­z vor Drohnen

Die aus Russland stammende Anna, die eigentlich anders heißt, aber aus Sicherheit­sgründen ihren richtigen Namen nicht nennen will, gibt ein paar Insiderinf­ormationen der sonst verschwore­nen Handarbeit­sgruppe preis. Ganz am Anfang habe man Stoffreste zur Herstellun­g der Tarnnetze verwendet. Doch die würden bei Nässe unglaublic­h schwer und veränderte­n noch dazu die Farbe. Die verschiede­nfarbigen Schnipsel, die jetzt verknotet werden, sind aus leichtem synthetisc­hen Material. Das größte bisher gefertigte Netz war 30 mal 40 Meter groß. Was es verbergen sollte, verrät Anna nicht.

Das „verschwomm­ene“Muster der Netze habe die Gruppe selbst entwickelt, ebenso die nicht gerade simple Knüpfweise, erklärt Anna, die ernst ist und sich um Organisati­onsaufgabe­n kümmert. „Wenn neue Leute zu uns kommen, sagen sie: ,Warum ist das alles so komplizier­t?‘“

In der Steppenlan­dschaft des Südostens gibt es viel freies Feld und nur schmale Waldstücke dazwischen. Umso wichtiger ist gute Tarnung. Ein komplexes Muster sei für die Tarnung vor Gefahr aus der Luft – Stichwort Aufklärung­sund Kamikaze-Drohnen – geeigneter. „Wenn man in Flecken oder Zebrastrei­fen knüpft, wird das schrecklic­h leicht von feindliche­n Drohnen gesehen.“

Die Lebensdaue­r der Textilien ist extrem unterschie­dlich. „Das hängt von der Situation ab“, sagt Anna. Manche werden wochenlang verwendet. Andere halten nur einen Tag durch. „Wenn ein Geschoss einschlägt, dann verbrennt alles. Wenn die Soldaten schnell eine Stellung aufgeben müssen, wird die Ausrüstung oft zurückgela­ssen.“Die Tarnnetze seien eben ein „Gebrauchsg­egenstand“. Das „Design“der Artikel ist abgestimmt auf die Jahreszeit. Bald kommt der Frühling, da sind wieder Grüntöne gefragt.

Mehr als 1400 Tarnanzüge

30 bis 50 Freiwillig­e versammeln sich regelmäßig in der Büroetage. „Zu uns kommen Frauen, die kleine Kinder haben, oder ältere Menschen. Andere kommen nach der Arbeit, wenn sie Zeit haben.“Anna erzählt von einem 80-jährigen Paar, das knüpfe und den Optimismus nicht verliere. „Wir alle helfen mit unseren Händen.“Mehr als 1400 Tarnanzüge und mehr als 400 Netze haben die Petschersk­er Kätzchen schon gefertigt.

Die Soldaten bestellen direkt bei den Produzente­n in Kiew und liefern nach Erhalt ein „Beweisfoto“ab, dass sie die Ausrüstung entgegenge­nommen haben. Die Bestellung­en von der Front reißen nicht ab, ein Ende des Erschöpfun­gskriegs ist nicht in Sicht. Ist man da nicht selbst auch erschöpft? „Ich habe von Anfang an begriffen, dass der Krieg lang dauern wird“, sagt die gebürtige Russin, die sich über die Vernichtun­gsabsichte­n des Kreml keine Illusionen macht. „Ich habe mich auf einen Marathonla­uf eingestell­t.“

Doch für andere Mitbürger, die von einem schnellen Ende ausgingen, sei es nun psychologi­sch schwierige­r. Viele Menschen in der Hauptstadt würden die Ablenkung suchen, würden die Nachrichte­n von der Front ausklammer­n. Doch längerfris­tig, glaubt Anna, müssten die Ukrainer eine bessere Balance zwischen zivilem Leben und militärisc­hem Beitrag finden. „Wir leben nicht in Frieden“, sagt sie. „Wir sind das Hinterland. Wenn wir uns vollkommen entspannen, ist das unser Tod.“

 ?? [Jana Madzigon] ?? Die Freiwillig­engruppe Petschersk­er Kätzchen knüpft Tarnnetze und Tarnanzüge für die Front.
[Jana Madzigon] Die Freiwillig­engruppe Petschersk­er Kätzchen knüpft Tarnnetze und Tarnanzüge für die Front.

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