Bidens angriffiger Wahlkampfstart
Die Rede zur Lage der Nation nimmt den Demokraten die Angst: Ihr Kandidat zeigt, dass er es sehr wohl noch kann. Er attackierte Donald Trump scharf.
New York/Washington, D. C. Die Latte für Joe Biden lag am Donnerstagabend einigermaßen hoch. Nach wochenlangen Negativschlagzeilen wandelte der US-Präsident übers Parkett des Kongresses, um seine Rede zur Lage der Nation abzuliefern. In den Umfragen liegt Biden hinter Donald Trump zurück, der ihn ein zweites Mal herausfordert; seine Beliebtheitswerte sind im Keller. Die Wahl ist aber erst in knapp acht Monaten.
Anhänger des Demokraten sagen gern, sie würden nervös, wenn er vor die Kameras trete. An diesem Abend hatten sie allen Grund dazu: Bidens Team hat die jährliche Ansprache als eigentlichen Wahlkampfstart beworben, als Auftakt zu Wiederwahlkampagne. Und sie sollten damit richtigliegen.
Biden hielt eine passionierte Rede über seine Politik, über seine Vision Amerikas; er griff die Republikaner und Trump an, ohne jemals dessen Namen zu erwähnen. Am Ende leistete er sich gar einen Witz über sein Alter: „Im Lauf meiner Karriere ist mir gesagt worden, dass ich zu jung und zu alt sei“, sagte Biden, der einst mit 29 Jahren der jüngste Senator im Kongress war – und heute der älteste Präsident ist. „Das Problem, das unser Land hat, ist nicht, wie alt wir sind. Es ist, wie alt unsere Ideen sind.“
Der Inhalt
Innenpolitisch stehen die USA vor vielen offenen Fragen, die auch Biden als Präsident nicht beantwortet hat – selbst wenn er es am Donnerstag wieder verspricht. Seine Migrationspolitik, seine Bildungspolitik, sein Alter, all das sind Dinge, die die Bevölkerung beschäftigen.
In seiner Rede verschreibt sich Biden vor allem den Frauen der USA. Die Anti-Abtreibungsregelung, die die konservative Mehrheit am Supreme Court durchgesetzt hat, wird ihm Stimmen einbringen. Und er spielt darauf an, als er die Richter – ebenfalls anwesend – attackiert. Ein ungewöhnlicher Schritt, der im Applaus seiner Partei untergeht.
Die größte Ankündigung Bidens ist, die Steuern für Höchstverdiener anheben zu wollen. Biden will als Arbeiter-, als Gesundheitspolitiker gesehen werden. Weite Teile seiner Ansprache drehen sich um diese Themen, viel mehr, als er sich mit der Geopolitik befasst. Denn die interessiert die US-Amerikaner am Ende weitaus weniger als das Alltägliche, Ukraine- und Gaza-Krieg hin oder her. Seine Attacken gegen Trump fußen jedenfalls auf handfesten Belegen: Als er über Schusswaffenangriffe in den USA spricht, die Trump zuletzt beiseitegewischt hat, kann Biden nur punkten. Was er als Präsident entgegensetzen kann, ist freilich eine andere Frage.
Der Wahlkampf
Die Rede zur Lage der Nation wurde im Wahlkampfjahr tatsächlich auch zur Wahlkampfansprache. Und das mit großem Effekt. Biden war voller Energie – so sehr, dass die „New York Times“ihn mit einem Auktionär verglich, der seine Politik anpries.
Biden stilisiert sich gern als Politiker der alten Schule, als Mann, der über den politischen Grabenkämpfen steht. Dass er gegen Trump aber nun die Boxhandschuhe herausholen muss, dürfte seinem Wahlkampfteam mittlerweile bewusst geworden sein. Über ein Dutzend Mal sprach Biden über die Politik „meines Vorgängers“– Trumps Namen brachte er nicht über die Lippen. Die Stimmung, die Biden damit im Saal erzeugte, erinnerte plötzlich wieder an den Wahlkampf 2020, als das Land nach vier chaotischen Jahren mit Trump im Weißen Haus sich nach etwas Ruhe sehnte.
Biden gab sich verbindlich, als großer Demokrat: Selbst der republikanische Chef des
Repräsentantenhauses, Mike Johnson, klatschte und nickte während der Rede. Biden zeigte sich aber auch als Parteipolitiker. Im Hin und Her mit Republikanern, die seine Ansprache mit Zwischenrufen störten, ging Biden förmlich auf. Seine eigene Partei gab sich betont enthusiastisch – und geeint.
Das Problem
Biden befindet sich in einer paradoxen Situation. Der Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg unterstrich schon vor der Rede: Biden habe die US-Wirtschaft nach der Covid-Pandemie zu unvergleichbarer Stärke geführt. Rezessionsbefürchtungen stellten sich als unwahr heraus. Die Arbeitslosenrate ist so niedrig wie zuletzt unter dem Republikaner Richard Nixon in den 1970er-Jahren. Die Inflation ist, im weltweiten Vergleich, so niedrig wie nirgendwo anders. Und doch: Die Amerikaner sind unzufrieden. Wie Biden sie ein zweites Mal für sich gewinnen will? Mit der Energie und dem Witz, die er am Donnerstag gezeigt hat. Die Demokraten hoffen nun, dass Biden diese Form auch beibehält.