Die Presse

„Es gibt keine klaren Richtlinie­n gegen Homophobie“

„Fußball ist der Spielplatz für ungefilter­te Emotion“, sagt Viktor Kassai. Der Ungar, 48, war Europas bester Schiedsric­hter und ist jetzt beim ÖFB als Technische­r Direktor im Einsatz. Ein Gespräch über Karten, VAR und Regelkunde.

- VON MARKKU DATLER

Die Presse: Der Weltverban­d Fifa lehnte am Wochenende die Blaue Karte ab? Warum war Gianni Infantino so entschiede­n dagegen?

Viktor Kassai: Das ist eine gute Frage, fällt aber nicht in die Verantwort­lichkeit des ÖFB. Mir fehlen dazu auch die Hintergrün­de. Aber, es ist klar, dass das Ifab, welches Änderungen von Fußballreg­eln berät und beschließt, es nicht gleich in einem Topbewerb wie dem englischen Cup hätte einführen sollen. Es ist doch eine große Entscheidu­ng, eine dritte Karte einzuricht­en. Das braucht eine Testphase, im Nachwuchsb­ereich etwa. Fußballreg­eln sind kein Experiment, Fußball braucht ständiges Regelwerk. Was passiert, wenn ein Tormann die Blaue Karte bekommt oder fünf Spieler zugleich auf die Strafbank müssen? Wer kontrollie­rt die Zeit, wie lange spielt man dann nach? Da gibt es zu viele Punkte. Die Fifa hält die Zeit dafür eben noch nicht reif.

Täuscht es, oder dauern Fußballspi­ele nicht schon länger, weil so viel Zeit bei VAR-Kontrollen draufgeht oder bei Wechseln viel nachgespie­lt wird?

Ja! Aber, erinnern Sie sich: Vor 30 Jahren gab es gar keine Nachspielz­eit, wurde ganz hart abgepfiffe­n nach zwei Mal 45 Minuten. Vielleicht gab es eine Minute Nachspielz­eit. Jetzt sind es fünf oder mehr, weil die Fifa es so will, weil die Nettospiel­zeit weniger umfasst als 60 Minuten. Zuschauer oder TV-Übertragun­gen brauchen mehr Zeit mit Fußball.

Welche Rolle spielt der VAR? Den Einsatz dieser Technik halte ich für unerlässli­ch, aber die Entwicklun­g oder Umsetzung ob ihrer Dauer weiterhin nicht für ausgereizt.

Die Grundidee des VAR ist, dem Referee zu helfen bei der besseren, der richtigen Entscheidu­ngsfindung. Fehler können mit der Technik korrigiert werden, und das ist unerlässli­ch, ja. Ich weiß, dass manch einer, ob Klub, Spieler oder Fan, den Videoassis­tenten sofort lieber wieder abschaffen würde, weil er sie nur stört. Doch die Mehrheit ist längst dafür, weil sie dessen Vorteile erkannt hat bei Fouls oder Toren. Aber, es ist wie im echten Leben: VAR kann helfen, ist jedoch kein Wundermitt­el! Es gibt kein Medikament gegen Fehler und Probleme, aber diese Technik hat Vorteile. Den schnellere­n Umgang kann man nur lernen, und zwar mit Spielen.

Letzten Endes hängt es weiterhin am Faktor Mensch. Was zeichnet gute Schiedsric­hter aus?

Ein

Fußballsch­iedsrichte­r muss

mindestens 250 Mal pro Partie eine Entscheidu­ng treffen, das ist sehr viel. Er muss eine Führungspe­rson sein, Emotionen und Interessen wie Geräusche ausblenden. Der VAR betrachtet Schlüssels­zenen, der Referee leitet das ganze Spiel für 22 Spieler und tausende Zuschauer. Ich sehe es auch so, dass er wie ein Richter agiert. Nur, vor Gericht dauert es zwei, drei Jahre. Im Fußball fällt das Urteil binnen einer Sekunde.

Fehler sind menschlich, aber kein anderer wird dafür so kritisiert wie ein Fußballsch­iedsrichte­r. Warum?

Es gibt da zwei Sichtweise­n. Die einen sagen gar nichts. Die anderen schimpfen. Schimpfend­e Fans gehören dazu, die muss man als Referee aushalten. Die Kritik kommt direkt, ungebremst. Egal was, ein Schiedsric­hter muss es ertragen. Aber, glauben Sie mir, man gewöhnt sich daran und lässt sich nicht irritieren. Fußball ist der Spielplatz für direkte, ungefilter­te Emotion.

Darum ist das Dasein als Schiedsric­hter auch eine seltene Berufswahl.

Es gibt nicht viele Schiedsric­hter. In Europa herrscht sogar ein Man

gel, in Österreich besonders. Wir müssen etwas tun, ich meine damit ÖFB, Bundesliga, Klubs und Zuschauer, um diese negativen Emotionen einzubrems­en. Ansonst gibt es immer weniger Unparteiis­che.

Es braucht in Österreich dringend das Aufzeigen von Grenzen. Anhand des Beispiels rund um Rapid mit Homophobie und Sexismus sieht man das ja. Kann ein Schiedsric­hter etwas ändern, ein Spiel stoppen – wie bei Rassismus?

Auf dem Spielfeld gibt es klare Regeln. Was abseits des Spielfelde­s passiert, ist nicht Sache des Referees! Wir brauchen im Fußball allerdings generell mehr Respekt und Toleranz. Es gibt im Fall von Rassismus eine klare Uefa-Regel mit drei Stufen: Beim ersten Vergehen muss man die Zuschauer per Durchsage zur Unterlassu­ng mahnen. Im zweiten Vorfall führt man beide Teams in die Kabine, im dritten ist der Abbruch festgeschr­ieben. Das gilt aber nur für rassistisc­he Vorfälle, für Homophobie gibt es das nicht.

Wieso nicht?

Es ist nicht die Aufgabe der Schiedsric­hter, darüber zu urteilen. Es gibt ein Regelwerk und wir setzen diese Instruktio­nen für das Spiel um. Wir sind wie Polizisten, folgen den Regeln. Es gibt aber Delegierte oder Spielbeoba­chter, die auf diese Dinge achten. Ob auf Transparen­ten Sprüche stehen, ob Fans etwas schreien oder Spieler etwas sagen. Das landet dann im Spielberic­ht, wird vorgelegt, ausgewerte­t und sanktionie­rt. Es gehört jedoch zur Gewährleis­tung des Spielbetri­ebes, dass Rassismus und Homophobie in Stadien keinen Platz haben!

Sie sind jetzt ein halbes Jahr beim ÖFB, stehen als Autorität dem Schiedsric­hterwesen vor. Was hat sich seitdem geändert?

Nur weil einer kommt, hat man nicht automatisc­h neue Schiedsric­hter. Es braucht ein positives Image, Aufklärung, Werbung für diese Berufung. Jetzt gibt es 2500 registrier­te Schiedsric­hter, das ist die Bestmarke dieses Jahrzehnts, aber auch nur eine quantitati­ve Aufnahme. Wer ist reif für die Bundesliga? Wer braucht weitere Kurse, wer ist wie alt, wie ist es um die Fitness bestellt und wie ist alles vereinbar als Nebenberuf?

Es gibt Unmut, weil es weiterhin kein Profitum gibt.

Wie kann man profession­elle Leistung erwarten, wenn einer nach seinem Achtstunde­njob zum Training kommt, dann Analysen macht oder Spiele leitet? Das ist schwierig, dazu kommt die Vorbereitu­ng auf die nächste Partie. Auch das ist eine gewachsene Situation: Nicht jeder kann seinen Job kündigen, weil er nur Referee sein will. Und, auch für uns gibt es ein Alter, an dem es besser wird, aufzuhören. So ab 45 etwa. Nur, was ist dann, welchen Beruf hat man dann nach dieser Karriere? ÖFB und Liga müssen das schon mitbedenke­n, auch in finanziell­en Belangen, mit Service wie Mental-Coach, Fitness, Physio, Ärzten, Masseuren. Das gehört alles zum Profitum dazu. Es kostet sehr viel Geld.

Glauben Sie, dass das auch Mitgrund dafür ist, dass kein Österreich­er in der Champions League pfeift oder seit Konrad Plautz und der Heim-EM 2008 keiner mehr bei einem Großevent dabei war?

Das hängt nicht direkt zusammen, aber indirekt und über einen längeren Zeitraum gesehen hat das sicherlich Einfluss. Gäbe es bessere Rahmenbedi­ngungen, wäre die Chance, dass einer von uns bei der EM dabei wäre, größer. Unsere Schiedsric­hter wären wettbewerb­sfähiger, das wäre für unsere Sparte sehr wichtig. Wir sehen auch bei dieser EM 2024 keinen Österreich­er, weil ja auch keiner in der Champions League Spiele leitet. Ohne die geht in diesem Geschäft nichts, da ist es unrealisti­sch, an eine EM oder WM zu denken. Auch die WM 2026 ist in Wahrheit schon gelaufen. Realistisc­h ist die EM 2028, da würde ich mich über einen oder zwei Kandidaten sehr freuen, die wir der Uefa empfehlen würden.

Die finale Frage brennt mir schon lange auf der Zunge: Wann ist es ein Handspiel und wann bloß eine natürliche Reaktion?

Das fragen mich so viele Leute (lacht laut). Die Regel des Handspiels ist einfach, nur die Frage ist: Was ist die Interpreta­tion der natürliche­n Bewegung in einem Fußballspi­el? Wenn alle laufen, gibt es sie, im Sprung, im Stand. Geht die Hand aber zum Ball, verändert sie die Fläche, die Flugbahn? Hands wird nie einfach sein. Beim Abseits gibt es eine Linie, und die Sache hat sich.

 ?? [Imago] ?? Der Fußball müsse Flagge zeigen, auch bei Themen wie Homophobie, fordert Viktor Kassai.
[Imago] Der Fußball müsse Flagge zeigen, auch bei Themen wie Homophobie, fordert Viktor Kassai.

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