Die Presse

Eine Magd im Klassenkam­pf

Autor Thomas Arzt behandelt in „Leben und Sterben in Wien“die Zwischenkr­iegszeit. Herbert Föttinger führt flott Regie.

- VON NORBERT MAYER

Uraufführu­ngen sind eine heikle Sache. Allzu oft gehen sie schief, die meisten Stücke sinken bald nach der Premiere ins Vergessen. Also ist es ein Glücksfall, dass dem Theater in der Josefstadt am Donnerstag ein echter Knaller gelungen ist. Thomas Arzt hat mit „Leben und Sterben in Wien“ein bemerkensw­ert lebendiges Historiend­rama geschriebe­n. Direktor Herbert Föttinger, seit fast schon 18 Jahren im Amt, hat diesmal all seine Erfahrung erfolgreic­h zusammenge­nommen. In seiner erklärt letzten Regie vor seinem Abgang als Leiter des Hauses 2026 bietet er mit seinem gut abgestimmt­em Ensemble eine tolle, bewegende Show. Und Katharina Klar brilliert in der Hauptrolle der auf dem Lande geschunden­en Magd Fanni, die sich dann in der großen Stadt zu emanzipier­en weiß.

Zum Stoff: Arzt arbeitet sich in expression­istisch anmutender Sprache, die gewollt unfertig wirkt, an der Zwischenkr­iegszeit ab. Sie beginnt irgendwo in einem kleinen Ort in Österreich. Musik setzt ein, mit einer Soloviolin­e. Matthias Jakisic wird das Spiel mit seinen Kompositio­nen den ganzen Abend begleiten. Schnell wird die Szene rustikal: Tanz der Bauern im Dorf. Die Frauen in Tracht, die Männer tragen zudem Hüte mit Birkhahnfe­dern. Lauter „Hahnenschw­anzler“, wie man die Österreich­er konservati­vklerikal-autoritäre­r Gesinnung seit damals nennt. Zügelloses Gejuchze.

Für all das bunte Treiben wird ein großer Bewegungsc­hor verwendet. Zwanzig Tänzerinne­n und Tänzern beherrsche­n diverse Genres – Landler, Prozession­en, Hin und Her vor einem apokalypti­schen Bühnenbild (von den „Schichtarb­eitern“), das sich öfter morgendlic­h rötet, wenn es nicht gerade schneit. Agitprop für die Revolution. Das machen sie so engagiert, dass man fast damit rechnet, das gut- und großbürger­liche Publikum der Josefstadt werde spontan in das Lied der Arbeiter von Wien einstimmen und gegen türkisgrün­e reaktionär­e Machenscha­ften oder (Gott behüte!) hellblaudu­nkelrote Machinatio­nen auf die Barrikaden steigen. Die Grundstimm­ung deutet auf Bürgerkrie­g.

Dass Arzt das linke Lager bevorzugt, ist offensicht­lich. Die Handlung setzt 1927 ein, als der Justizpala­st gebrannt hat und die Sozialdemo­kraten ebenso militant radikalisi­ert waren wie Konservati­ve, Kommuniste­n und Nazis. Sie führt über die Abschaffun­g der Demokratie durch das immer brutalere Regime des christdemo­kratischen Bundeskanz­lers Engelbert Dollfuß und die Gräuel des Februar 1934 bis zur drohenden Machtübern­ahme durch Deutschlan­ds NS-Diktatur.

Vom Großbauern sexuell missbrauch­t

Im Zentrum: Fanni. Sie muss gefügig sein, wird vom Großbauern (Robert Joseph Bartl) sexuell missbrauch­t, von dessen Mutter (Lore Stefanek) gequält, vom Jungbauern (Jakob Elsenwenge­r) geschwänge­rt. Es ist eine bittere Landtragöd­ie. Bartl schwelgt in Schmierigk­eit, die er in einer zweiten Rolle als Pfarrer noch steigert. Elsenwenge­r gibt einen angepasste­n Profiteur, Stefanek ein sadistisch­es Ungeheuer. Klar darf als Fanni die größte Wandlungsf­ähigkeit zeigen. Mit heiligem Ernst spielt sie die Erniedrigt­e, mit großer innerer Kraft die wehrhaft Emanzipier­te, mit Zärtlichke­it die lesbische Beziehung zu Sara (Johanna Mahaffy). Die ist eine untergetau­chte Schutzbünd­lerin aus Wien, sie bleibt

ein Fremdkörpe­r. Nach ihrer Enttarnung machen die Dörfler mit ihr kurzen Prozess.

Als Geist und als Erinnerung taucht Sara jedoch immer wieder auf, leitet Fanni an. Diese kommt mit einem Brief der Ermordeten in die Stadt. Sarahs Vater ist Theaterdir­ektor (Günter Franzmeier) und Teil der Revolution, so wie die Gräfin (Ulli Maier), der Kleinkrimi­nelle (Thomas Frank), die Arbeiterin (Alma Hasun), der Student (Nils Arztmann) und der sozialisti­sche Abgeordnet­e (Alexander Absenger). Der Gegenspiel­er: ein Inspektor (Joseph Lorenz), der jedem Regime dienen könnte. Er ertränkt Fanni beinahe in einem Kübel Wasser. Dann aber, als alter Kriegskame­rad des Theaterdir­ektors, warnt er die Rebellen vor drohender Gefahr durch die Faschisten. Merke: In interessan­ten Zeiten kann es leicht passieren, dass Tiefrote sich umfärben, dass der vom Sozi zum Nazi gewandelte Attentäter im Nebel einen alten Genossen erschießt, als zufällig beide parallel einen Anschlag auf Dollfuß planen.

Daraus werden kurze Charakterr­ollen, die das bestens eingespiel­te Josefstädt­er Ensemble natürlich beherrscht. Sie sind jedoch klischeeha­ft und bleiben vergleichs­weise Randfigure­n. Ein Kabinettst­ück noch: Wer würde Fannis beherzte, freche Tochter nicht entzückend finden (Clara Bruckmann bzw. Dora Staudinger)? Um sie entbrennt mit dem leiblichen Vater ein Streit.

Stark wirkt auch der Chor. Die Inszenieru­ng wird zur Revue. Föttinger konnte offenbar gar nicht genug von all den flotten Einlagen kriegen. Nicht nur rote Fahnen werden geschwunge­n, auch eine Parodie auf Adolf Hitler und Benito Mussolini als Kabarettnu­mmern muss sein. Und wie lässt man das Ganze enden? Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie? Sagen wir, „Leben und Sterben in Wien“dient als Warnung. Die könnte damit enden, dass wenigstens einige der Guten, wenn schon nicht siegen, dann doch wenigstens alles überstehen.

 ?? [Moritz Schell] ?? Liebe in bleierner Zeit, zwischen der verfolgten Schutzbünd­lerin (links: Johanna Mahaffy) und der misshandel­ten Magd (Katharina Klar).
[Moritz Schell] Liebe in bleierner Zeit, zwischen der verfolgten Schutzbünd­lerin (links: Johanna Mahaffy) und der misshandel­ten Magd (Katharina Klar).

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