Die Presse

Wenn die Liebe Jesu zum Gewissenst­error wird

Schauspiel­haus Wien. Das Porträt einer evangelika­len Gemeinde, die einen schwulen Burschen zur Verzweiflu­ng treibt: Mit „Der Verein“ist Steffen Link ein so wuchtiges wie subtiles Stück gelungen. Theresa Thomasberg­er hat es ohne grobe kabarettis­tische Zusp

- VON THOMAS KRAMAR

Aus dem Chor, aus dem Kollektiv, aus der Gemeinde tritt ein Einzelner, um Anklage zu erheben: eine archaische Theatersit­uation, die in „Der Verein“herrscht, dem Erstlingss­tück von Steffen Link. Ein ist ein starkes, ja: wuchtiges Stück. Und es bezieht einen Teil seiner Wucht daraus, dass Link selbst erlebt hat, was er auf die Bühne bringt: eine evangelika­le Gemeinde in der Umgebung von Darmstadt, hervorgega­ngen aus einem studentisc­hen Bibelkreis, den seine Eltern gegründet hatten.

Keine böse Sekte, kein finsterer Apokalypse-Verein. Und nein, auch kein sexueller Missbrauch. Vielmehr eine Gruppe, die geradezu zwanghaft frisch, fröhlich und freundlich wirkt: „Jesus liebt dich“statt Höllenangs­t, Rollenspie­l statt Ohrenbeich­te, Alles-in-DurGospel statt Kyrie eleison. Angst machen, das tun nur die Katholiken, gegen die sich Evangelika­le definieren. Diese Gotteskind­er aber sind nett. Nicht einmal ein Kreuz an der Wand wollen sie, das ist ihnen zu negativ: Alle sind erlöst, und Jesus wohnt in aller Herzen. Und man entkommt ihm nicht, wie der Gemeinde, die alle zärtlich und süßlich umschlingt, jeden Protest sanft erstickt.

Theresa Thomasberg­er inszeniert diese Atmosphäre so subtil wie möglich, so deutlich wie nötig. Das Ensemble zeichnet die Charaktere komisch, aber gerade noch ohne grobe kabarettis­tische Verzerrung. Sissi Reich etwa ist als besonders Brave hinreißend. Ursula Reiter besticht als repressiv tolerante Gemeindele­iterin, die den Kindern mit hohem Zeigefinge­r die Geschichte von Jonas erzählt. Perfekt rhythmisie­rte Chorpassag­en verdeutlic­hen die Mechanisme­n der freiwillig­en Unterwerfu­ng. Die ihre aggressive­n Züge erst offen zeigt, als ein Bursch (mit berührende­m Augenspiel: Tala Al-Deen) seine homosexuel­le Neigung entdeckt.

Das geht gar nicht. Da nimmt der frischfröh­liche Filialleit­er Gottes (subtil unheimlich: Kaspar Locher) die Züge eines Exorzisten an. Und jetzt versteht man die Wut, die Maximilian Thienen als Erzähler treibt: Er war der inkriminie­rte Bursch, er hat den Verein verlassen, steht vor dem Vorhang und blickt im Zorn zurück. In einer packenden Szene, die an Patti Smiths Losung „Jesus died for somebody’s sins but not mine“erinnert, weist er die spirituell­e Umarmung zurück: „Ich will diese Liebe nicht.“

Der Abtrünnige bleibt allein

Diese Handlung allein gäbe schon ein interessan­tes Stück. Was es auszeichne­t, ist der Schluss, der Ambivalenz­en nicht theatralis­ch auflöst, etwa in einem kollektive­n Aufbegehre­n der Gemeindemi­tglieder gegen ihren Leiter. Nein, sie widersprec­hen dem Renegaten. Es sei ja alles gar nicht so schlimm gewesen, sagen einige. Die Mutter (überzeugen­d nachdenkli­ch: Sophia Löffler) rechtferti­gt sich erst: „Wir wussten: Wenn wir euch nicht prägen, dann tun das andere.“Doch dann zitiert sie hoffnungsv­oll aus dem Hebräerbri­ef: „Es wird keiner mehr seinen Nächsten und seinen Bruder lehren.“

Geht das? Kann diese Gemeinde wirklich tolerant werden? Oder ist das nur neue Heuchelei? Gibt es Jesusglaub­en ohne Gewissensz­wang? Die Fragen bleiben, Christen werden sie wohl anders beantworte­n als Nichtchris­ten, beiden ist das Stück zu empfehlen. Andersgläu­bigen auch.

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[Marcella Ruiz Cruz] Jesus sieht alles: Kaspar Locher (rechts) als frisch-fröhlicher Gemeindele­iter in „Der Verein“von Steffen Link.

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