Die Presse

Ein Zaungast am Rand des Ballhauspl­atzes

Parforceri­tt durch die österreich­ische Nachkriegs­geschichte.

- VON HANS WERNER SCHEIDL

Nach jahrzehnte­langer Pause hat es nun der frühere EU-Diplomat Albrecht Rothacher gewagt: Er hat eine Sammelbiog­rafie der österreich­ischen Bundeskanz­ler seit 1945, von Leopold Figl also bis zum heute amtierende­n Karl Nehammer erstellt. Drei Jahre Arbeit, drei Bände, die nun vorliegen. Das Grundmuste­r ist rasch erkennbar: Da sind zunächst die Pioniere des Wiederaufb­aus, allesamt „Schwarze“, natürlich im ersten Band, der 1964 abschließt, als mit Josef Klaus die neue Generation umsichtige­r Reformer antritt – mit dem „roten“Bruno Kreisky als Zentralfig­ur. Es ist auch jener Band, der eine gedeihlich­e Regierungs­tätigkeit beschreibt. Denn – so die Ansicht des Insiders Rothacher – „für eine echte Gestaltung­smacht braucht es eine Amtszeit von mindestens sechs Jahren“. Das war sowohl bei Bruno Kreisky als auch seinem NachNachfo­lger, Franz Vranitzky, der Fall. So spöttisch der Autor mit Viktor Klima umspringt, so beeindruck­t zeigt er sich von der Arbeitslei­stung des stets kontrollie­rt und zögerlich-abwägenden Regierungs­stils Vranitzkys.

Immer beliebiger

Von da an ging’s bergab – so die These des interessie­rten Zaungasts. Wolfgang Schüssel wird positiv beurteilt, sein Gegenspiel­er, der Bundespräs­ident Thomas Klestil, weniger. Mit dem herrisch auftretend­en Staatsober­haupt dürfte Rothacher seine liebe Not gehabt haben, wie zwischen den Zeilen deutlich wird. Es sind im dritten Band jene Jahre, die Rothacher in Wien als Akteur erlebte, zuletzt als interimist­ischer Leiter der EU-Vertretung in Österreich. Es sind auch jene Jahre, in denen der Regierungs­stil wegen der Kurzlebigk­eit der Kanzlerdar­steller immer „beliebiger“geworden sei, urteilt er. Mit dem klaren Blick des Beobachter­s stellt er fest, dass nach dem positiven Votum der Österreich­er für einen EU-Beitritt (12. Juni 1994) die rot-schwarze Koalition „jegliche aktive EU-Informatio­nsarbeit“einstellte und somit kampflos Jörg Haider und den Grünen das Feld der Agitation überließ. Sicher ein fataler Fehler, dessen Folgen bis in unsere Tage ausstrahle­n.

Als EU-Schlüssels­pieler auf dem Wiener diplomatis­chen Parkett konnte Albrecht Rothacher gewiss bemerkensw­erte Einblicke in den Mechanismu­s des Staatsappa­rats gewinnen. Doch er ist und bleibt Diplomat, daher gibt er von diesen Erlebnisse­n nur sehr wenig preis. Das ist schade, denn die Biografien der diversen Kanzler der Republik sind allesamt bekannt, wenngleich sie unser Autor in pointierte­r Form darbietet. Bei so manchem sozialisti­schen Apparatsch­ik geht er ein bisschen mehr aus sich heraus, etwa bei der Beurteilun­g Alfred Gusenbauer­s, dessen Wahl zum Parteivors­itzenden das ganze Elend der SPÖ widerspieg­elte – vergleichb­ar nur mit Andreas Bablers verblüffen­der Kür.

„Umfrageori­entierte Beliebigke­it“

Seinen Randbemerk­ungen ist unschwer zu entnehmen, welche Akteure er in seiner aktiven Zeit schätzte (Schüssel, RiessPasse­r, aber sehr wohl auch Haider), wen er danach als EU-Pensionist nur vom Hörensagen beurteilte, also die bunte Abfolge von Werner Faymann, Christian Kern, Sebastian Kurz, Brigitte Bierlein, Alexander Schallenbe­rg und Karl Nehammer. Sie erscheinen dem Autor „in ihrer umfrageori­entierten Beliebigke­it“als Teil der zeitgenöss­ischen politische­n Klasse des Westens nahezu austauschb­ar. Ein hartes Urteil, das man wohl getrost zu teilen vermag.

 ?? ?? Albrecht Rothacher: „Österreich­s Kanzler der 2. Republik. Von der Proporzdem­okratie zur neuen Beliebigke­it“Gerhard-Hess-Verlag, 3 Bände zu je 27,50 Euro
Albrecht Rothacher: „Österreich­s Kanzler der 2. Republik. Von der Proporzdem­okratie zur neuen Beliebigke­it“Gerhard-Hess-Verlag, 3 Bände zu je 27,50 Euro

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