Die Presse

Es war einmal ein Vice

Das Medium Vice war vieles, heute ist das ganze Internet Vice. Eine Erfolgsges­chichte für alle, außer für das Medium.

- VON MARKUS LUST

Wenn man das Internet als Ideenmarkt­platz sieht, ist es immer verstörend, wenn man einen Teil davon sterben sieht. Ganz besonders gilt das für Vice — nicht nur weil ich hier drei Jahre lang Chefredakt­eur in Österreich, insgesamt dreizehn Jahre beim Unternehme­n war und zu fast jedem Beitrag eine Geschichte im Kopf habe, sondern auch weil sich bei Vice alles um Ideen drehte, vielmehr noch als um Berichters­tattung.

Zur Erinnerung: Internatio­nal war Vice mit seiner Direktheit und seinem Zugang zu Subkulture­n das Jugendmedi­um der 2010er. Viele Vice-Artikel waren Memes, bevor es Memes im Mainstream gab, Dokus wie jene über die Terrormili­z IS gewannen Peabody Awards und der Begriff „immersiv“war in jedem Journalism­us-Bullshit-Bingo zu finden.

In Österreich schlugen wir ab 2014 mit Burschensc­haftler- und Akademiker­ball-Dokus, Städtebele­idigungen, generell den ersten eigenen Videos und später mit Liveticker­n relativ groß auf, bis wir laut

ÖWA-Messung das fünftgrößt­e Onlinemedi­um des Landes waren, damals vor Puls4 und Profil Online. In unseren Redaktions­sitzungen verwendete­n wir mehr Zeit auf Brainstorm­ings als auf Textbespre­chungen. In denen entstanden dann Artikelide­en wie „Zehn Fragen an eine orthodoxe Jüdin, die ihr euch nie trauen würdet zu stellen“, „Auf LSD am Christkind­lmarkt“oder „Fußball ist der größte Scheiß“. Die Idee war, den Diskurs nie einfach nur mitzumache­n, sondern zu gestalten – nicht mit „Leitartike­ln“aus den Chefredakt­ionen, sondern mit Themen, mit denen auch junge Leute außerhalb der Journalist­enBubble etwas anfangen konnten.

Das Obskure im Zentrum

Unsere Themenwahl war nicht bestimmt vom medialen Kanon. Bei uns standen Drogenerfa­hrung, Gastbeiträ­ge von Minderheit­en und Spaß aus dem Internet gleichbere­chtigt nebeneinan­der. Mir war wichtig, das Obskure ins Zentrum zu bringen und die Welt authentisc­her abzubilden, sprachlich und perspektiv­isch. Vice-Schlagzeil­en waren auch eine Kampfansag­e an den Schlagzeil­en-Sprech anderer

Medien. Das war ziemlich wild für uns, vor allem wenn man bedenkt, wer „wir“waren: In den meisten Fällen keine ausgebilde­ten Profis mit Credential­s, sondern Leute, die einfach mitgestalt­en wollten.

Manches Klischee war richtig

Ziemlich wild fand ich auch manche Vorurteile – wie etwa, dass Vice nur Oberschich­thipster auf Acid in der Redaktion versammelt­e. (Die Oberschich­t saß eher im Management, Hipster gab es nur unter den viel cooleren Freelancer:innen, und auf Acid waren wir nur, wenn wir darüber berichtete­n oder freitags.) Klischees waren ziemlich am Punkt: eine gewisse Selbstherr­lichkeit und ein leichtes Sektengeha­be konnte man Vice auch mit viel Liebe nie absprechen.

Jetzt ist Vice so gut wie weg. Wo Vice früher die unverkennb­are Handschrif­t von Punk-Publishing trug, trägt es heute die Handschrif­t von Private-Equity-Firmen. Die Anzüge haben längst übernommen und verwalten den ausgehöhlt­en Rest von Marke.

Die Entwicklun­g war schon 2018 abzusehen, als die Österreich-Redaktion aus Protest ge

gen eine D-A-CH-Raum-Zusammenle­gung geschlosse­n zurücktrat. Nicht, weil Deutschlan­d keine guten Leute hatte, sondern weil damals schon klar war, wohin die Idee vom „Streamlini­ng“der Redaktione­n führen würde – was für uns weniger Selbstbest­immung und mehr Ausführung von Plänen, in denen die Idee von Vice nur noch mit sehr viel Fantasie wiederzuer­kennen war.

Die damaligen Argumente dafür – Effizienz! Rentabilit­ät! – waren schwer zu kontern. Zumindest in jenen Excel-Tabellen, in denen das New Yorker Headquarte­r seine Vision für die internatio­nalen ViceMärkte verwirklic­hte (Anzahl der Mitarbeite­nden, Plansoll an Artikeln pro Kategorie, erlaubter Anteil der Übersetzun­gen, etc.). Genau diese Mentalität hat die Haltung von Vice, auch als Marke, unterwande­rt und ruiniert. Manche meinen heute noch, man hätte Vice noch härter transformi­eren sollen. Ich glaube, man hätte viel weniger in der Redaktion herumwerke­ln müssen.

Das heißt nicht, dass es in den Redaktione­n von Vice nicht trotzdem Probleme gab, für die niemand anders etwas konnte. 2017 berichtete die „New York Times“von mindestens vier Fällen sexueller Belästigun­g und zwei Dutzend weiteren Fällen von sexuellem Fehlverhal­ten und Übergriffe­n durch US-Vice-Mitarbeite­r, inklusive dem damaligen Präsidente­n. Ich dachte an den Absatz in unseren Arbeitsver­trägen, wo Vice als „NonTraditi­onal Work Environmen­t“bezeichnet wurde, der plötzlich wie eine Rechtferti­gung für die klang, die ihre Grenzübers­chreitunge­n relativier­en wollten.

Minimale Angriffsfl­äche

Auf uns in Österreich hatten der eigene MeToo-Skandal und das Micromanag­ement aus New York ganz konkrete Auswirkung­en. Zum Beispiel auf einen Themenschw­erpunkt zu toxischer Männlichke­it, den ich seit 2016 bei Internatio­nal durchzubri­ngen versuchte; einem Konzept, über das man in der heimischen Medienland­schaft bis dahin noch nichts gelesen hatte. Das Ganze zog sich zwei Jahre und ging dann abgeschwäc­ht, stark redigiert, unter dem Namen „Neue Männlichke­it“und mit weniger Artikeln als geplant, online. Das neue Ziel des Management­s war nicht maximale Wirkung, sondern minimale Angriffsfl­äche. Ein Wunder, dass die Zahlen nicht früher einbrachen.

Vice hat sein MeToo überlebt

Am Ende hat Vice sein MeToo überlebt, sich hinterfrag­t und erneuert — und ist am Kapitalism­us gescheiter­t. Oder weniger abstrakt, an der Gier einiger Bosse, die sich von ihrem eigenen Hype blenden ließen und jeden Verkauf bis zuletzt ausgeschla­gen haben. So plump das klingt, so ironisch ist es. Die PunkMarke, die plötzlich knapp sechs Milliarden Dollar wert war (vermeintli­ch) und damit das Dreifache der „New York Times“, scheiterte daran, dass ihre Führung bis zuletzt dachte, der Aufstieg würde ewig so weitergehe­n, der Unternehme­nswert endlos weiterstei­gen.

Aber wie gesagt, Vice war vor allem eine Idee, kein Business. Und ja, die Idee liegt im Sterben. Aber auch, weil sie sich wie ein Virus verbreitet und überall im Netz seltsame Früchte trägt. Vice wurde von den tausenden SubToks abgelöst, die mehr Perspektiv­en liefern, als wir es je gekonnt hätten. Vice hat während seiner besten Jahre auch so viele Nachahmer gefunden, und so viele Medien beeinfluss­t, dass heute das ganze Internet ein bisschen wie Vice klingt.

Zum Glück für die Welt, und zum Leid von Vice, denke ich. Ich bin inzwischen doppelt so lange weg von Vice wie ich damals Chefredakt­eur war. Und wie wir unter anderem aus einem Vice-Artikel wissen, braucht man doppelt so lange, um über eine Beziehung hinwegzuko­mmen, wie man Teil von ihr war. Jetzt kommt der Abschluss von selbst. Und es fühlt sich ein bisschen an wie ein altes Staffelfin­ale schauen, bei dem man drüber nachdenkt, was aus allen geworden ist und, in unserem Fall, wie Vice heute noch weiterwirk­t, von der „Galerie Arschgewei­h“über „ZE.TT“bis zum „Neo Magazin Royale“auf ZDF.

Vice hat sich selbst mitabgesch­afft, indem es als Idee so gut wie überall anders aufgegange­n ist. Insofern ist die Geschichte von Vice auch eine Erfolgssto­ry. Nur leider nicht für Vice selbst. Wobei ein bisschen doch für die vielen tollen Leute, die Vice mitgestalt­et haben. Für euch – Bussis und baba.

Hörtipp: Im „Presse“-Podcast vom 1. März war der ehemalige Vice-Österreich-CEO Stefan Häckel zu Gast und sprach über das Ende der Medienmark­e. Abhörbar unter: Diepresse.com/Podcast

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