Es war einmal ein Vice
Das Medium Vice war vieles, heute ist das ganze Internet Vice. Eine Erfolgsgeschichte für alle, außer für das Medium.
Wenn man das Internet als Ideenmarktplatz sieht, ist es immer verstörend, wenn man einen Teil davon sterben sieht. Ganz besonders gilt das für Vice — nicht nur weil ich hier drei Jahre lang Chefredakteur in Österreich, insgesamt dreizehn Jahre beim Unternehmen war und zu fast jedem Beitrag eine Geschichte im Kopf habe, sondern auch weil sich bei Vice alles um Ideen drehte, vielmehr noch als um Berichterstattung.
Zur Erinnerung: International war Vice mit seiner Direktheit und seinem Zugang zu Subkulturen das Jugendmedium der 2010er. Viele Vice-Artikel waren Memes, bevor es Memes im Mainstream gab, Dokus wie jene über die Terrormiliz IS gewannen Peabody Awards und der Begriff „immersiv“war in jedem Journalismus-Bullshit-Bingo zu finden.
In Österreich schlugen wir ab 2014 mit Burschenschaftler- und Akademikerball-Dokus, Städtebeleidigungen, generell den ersten eigenen Videos und später mit Livetickern relativ groß auf, bis wir laut
ÖWA-Messung das fünftgrößte Onlinemedium des Landes waren, damals vor Puls4 und Profil Online. In unseren Redaktionssitzungen verwendeten wir mehr Zeit auf Brainstormings als auf Textbesprechungen. In denen entstanden dann Artikelideen wie „Zehn Fragen an eine orthodoxe Jüdin, die ihr euch nie trauen würdet zu stellen“, „Auf LSD am Christkindlmarkt“oder „Fußball ist der größte Scheiß“. Die Idee war, den Diskurs nie einfach nur mitzumachen, sondern zu gestalten – nicht mit „Leitartikeln“aus den Chefredaktionen, sondern mit Themen, mit denen auch junge Leute außerhalb der JournalistenBubble etwas anfangen konnten.
Das Obskure im Zentrum
Unsere Themenwahl war nicht bestimmt vom medialen Kanon. Bei uns standen Drogenerfahrung, Gastbeiträge von Minderheiten und Spaß aus dem Internet gleichberechtigt nebeneinander. Mir war wichtig, das Obskure ins Zentrum zu bringen und die Welt authentischer abzubilden, sprachlich und perspektivisch. Vice-Schlagzeilen waren auch eine Kampfansage an den Schlagzeilen-Sprech anderer
Medien. Das war ziemlich wild für uns, vor allem wenn man bedenkt, wer „wir“waren: In den meisten Fällen keine ausgebildeten Profis mit Credentials, sondern Leute, die einfach mitgestalten wollten.
Manches Klischee war richtig
Ziemlich wild fand ich auch manche Vorurteile – wie etwa, dass Vice nur Oberschichthipster auf Acid in der Redaktion versammelte. (Die Oberschicht saß eher im Management, Hipster gab es nur unter den viel cooleren Freelancer:innen, und auf Acid waren wir nur, wenn wir darüber berichteten oder freitags.) Klischees waren ziemlich am Punkt: eine gewisse Selbstherrlichkeit und ein leichtes Sektengehabe konnte man Vice auch mit viel Liebe nie absprechen.
Jetzt ist Vice so gut wie weg. Wo Vice früher die unverkennbare Handschrift von Punk-Publishing trug, trägt es heute die Handschrift von Private-Equity-Firmen. Die Anzüge haben längst übernommen und verwalten den ausgehöhlten Rest von Marke.
Die Entwicklung war schon 2018 abzusehen, als die Österreich-Redaktion aus Protest ge
gen eine D-A-CH-Raum-Zusammenlegung geschlossen zurücktrat. Nicht, weil Deutschland keine guten Leute hatte, sondern weil damals schon klar war, wohin die Idee vom „Streamlining“der Redaktionen führen würde – was für uns weniger Selbstbestimmung und mehr Ausführung von Plänen, in denen die Idee von Vice nur noch mit sehr viel Fantasie wiederzuerkennen war.
Die damaligen Argumente dafür – Effizienz! Rentabilität! – waren schwer zu kontern. Zumindest in jenen Excel-Tabellen, in denen das New Yorker Headquarter seine Vision für die internationalen ViceMärkte verwirklichte (Anzahl der Mitarbeitenden, Plansoll an Artikeln pro Kategorie, erlaubter Anteil der Übersetzungen, etc.). Genau diese Mentalität hat die Haltung von Vice, auch als Marke, unterwandert und ruiniert. Manche meinen heute noch, man hätte Vice noch härter transformieren sollen. Ich glaube, man hätte viel weniger in der Redaktion herumwerkeln müssen.
Das heißt nicht, dass es in den Redaktionen von Vice nicht trotzdem Probleme gab, für die niemand anders etwas konnte. 2017 berichtete die „New York Times“von mindestens vier Fällen sexueller Belästigung und zwei Dutzend weiteren Fällen von sexuellem Fehlverhalten und Übergriffen durch US-Vice-Mitarbeiter, inklusive dem damaligen Präsidenten. Ich dachte an den Absatz in unseren Arbeitsverträgen, wo Vice als „NonTraditional Work Environment“bezeichnet wurde, der plötzlich wie eine Rechtfertigung für die klang, die ihre Grenzüberschreitungen relativieren wollten.
Minimale Angriffsfläche
Auf uns in Österreich hatten der eigene MeToo-Skandal und das Micromanagement aus New York ganz konkrete Auswirkungen. Zum Beispiel auf einen Themenschwerpunkt zu toxischer Männlichkeit, den ich seit 2016 bei International durchzubringen versuchte; einem Konzept, über das man in der heimischen Medienlandschaft bis dahin noch nichts gelesen hatte. Das Ganze zog sich zwei Jahre und ging dann abgeschwächt, stark redigiert, unter dem Namen „Neue Männlichkeit“und mit weniger Artikeln als geplant, online. Das neue Ziel des Managements war nicht maximale Wirkung, sondern minimale Angriffsfläche. Ein Wunder, dass die Zahlen nicht früher einbrachen.
Vice hat sein MeToo überlebt
Am Ende hat Vice sein MeToo überlebt, sich hinterfragt und erneuert — und ist am Kapitalismus gescheitert. Oder weniger abstrakt, an der Gier einiger Bosse, die sich von ihrem eigenen Hype blenden ließen und jeden Verkauf bis zuletzt ausgeschlagen haben. So plump das klingt, so ironisch ist es. Die PunkMarke, die plötzlich knapp sechs Milliarden Dollar wert war (vermeintlich) und damit das Dreifache der „New York Times“, scheiterte daran, dass ihre Führung bis zuletzt dachte, der Aufstieg würde ewig so weitergehen, der Unternehmenswert endlos weitersteigen.
Aber wie gesagt, Vice war vor allem eine Idee, kein Business. Und ja, die Idee liegt im Sterben. Aber auch, weil sie sich wie ein Virus verbreitet und überall im Netz seltsame Früchte trägt. Vice wurde von den tausenden SubToks abgelöst, die mehr Perspektiven liefern, als wir es je gekonnt hätten. Vice hat während seiner besten Jahre auch so viele Nachahmer gefunden, und so viele Medien beeinflusst, dass heute das ganze Internet ein bisschen wie Vice klingt.
Zum Glück für die Welt, und zum Leid von Vice, denke ich. Ich bin inzwischen doppelt so lange weg von Vice wie ich damals Chefredakteur war. Und wie wir unter anderem aus einem Vice-Artikel wissen, braucht man doppelt so lange, um über eine Beziehung hinwegzukommen, wie man Teil von ihr war. Jetzt kommt der Abschluss von selbst. Und es fühlt sich ein bisschen an wie ein altes Staffelfinale schauen, bei dem man drüber nachdenkt, was aus allen geworden ist und, in unserem Fall, wie Vice heute noch weiterwirkt, von der „Galerie Arschgeweih“über „ZE.TT“bis zum „Neo Magazin Royale“auf ZDF.
Vice hat sich selbst mitabgeschafft, indem es als Idee so gut wie überall anders aufgegangen ist. Insofern ist die Geschichte von Vice auch eine Erfolgsstory. Nur leider nicht für Vice selbst. Wobei ein bisschen doch für die vielen tollen Leute, die Vice mitgestaltet haben. Für euch – Bussis und baba.
Hörtipp: Im „Presse“-Podcast vom 1. März war der ehemalige Vice-Österreich-CEO Stefan Häckel zu Gast und sprach über das Ende der Medienmarke. Abhörbar unter: Diepresse.com/Podcast