Die Presse

„Die Lösung liegt auf der Karte“

Sie vermisse Mut und Vision in der israelisch­en Politik, sagt die Historiker­in und Antisemiti­smusforsch­erin Shulamit Volkov am Rande ihrer Simon Wiesenthal Lecture in Wien.

- VON CORNELIA GROBNER

Die Presse: Wie haben Sie den 7. Oktober erlebt?

Shulamit Volkov: Mein Mann hat mich geweckt. Er hat die Sirene gehört und bestand darauf, dass wir in den Bunker gehen. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass etwas passiert ist. Aber nach und nach kamen die Nachrichte­n. Je mehr man hörte, desto schlimmer war es. Und in den nächsten Wochen kamen die Raketen, manche sogar bis zu uns, und wir wohnen nördlich von Tel Aviv.

Haben Sie als Wissenscha­ftlerin gleich versucht, die Ereignisse einzuordne­n?

Ja, natürlich, sofort. Sie betrafen ja das Thema, mit dem ich mich seit 50 Jahren beschäftig­e. Was besonders ungewöhnli­ch war: Die Zeit, in der man Empathie mit Israel hatte, war sehr kurz. Schon am zweiten Tag wurde Israel mit sehr harter Kritik konfrontie­rt. Ich möchte niemanden verteidige­n und teile viel von dieser Kritik, aber ich brauche niemanden aus Wien oder Berlin, der mir das erzählt. Nur einen Tag wurde über die Menschen gesprochen, die in die Hände der Hamas gefallen waren. Das erinnerte mich plötzlich an meine Zeit in Berkeley in Kalifornie­n.

Was ist damals passiert? Der Sechstagek­rieg (eine militärisc­he Provokatio­n Ägyptens führte 1967 zum dritten Arabisch-Israelisch­en Krieg, in dem Israel u. a. den Gazastreif­en eroberte; Anm.).

Bevor man noch mit der Besetzungs­politik begonnen hatte, die später so katastroph­al wurde, ging man in meinem Freundes- und Bekanntenk­reis schon hart mit Israel ins Gericht. Vor dem Krieg hatten alle, auch die extreme Linke, Sorge um Israel. Ich war damals an der University of California und war über den Sommer nach Hause geflogen. Als ich zurückkam, waren schon alle gegen uns. Das hat mich lange Zeit sehr beschäftig­t und auch meine Arbeit beeinfluss­t.

Fünf Monate nach dem schlimmste­n Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust steht Israel sehr isoliert da. Hätten Sie das erwartet?

Die Politik von Israel gibt Grund genug für Kritik. Aber die Situation ist extrem komplizier­t und die Kritik kam so schnell, so unproporti­onal, so einseitig und so simpel. Das war neu, auch wenn das Phänomen an sich nicht neu ist.

Gibt es auch Unterschie­de zu früheren antisemiti­schen Wellen?

Ja, und die kann man historisch erklären. Die harte Kritik kam früher von der, wie man sie in den USA nannte, Neuen Linken, die ursprüngli­ch Sympathie und Empathie für Israel hatte. Jetzt ist es aber nicht mehr nur ein Flügel, sondern die Kritik kommt aus der Mitte der westlichen Gesellscha­ft und sie gleitet schnell von Israelkrit­ik zu Antisemiti­smus ab. Das ist das Resultat der arabisch-palästinen­sischen Propaganda, aber auch der Änderung der politische­n Landschaft im Westen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man eine neue Welt schaffen, in der Sachen wie der Holocaust nicht passieren können. Es dauert, bis das zu einer Art Ethos wird – und Israel scheint jetzt „aus der Zeit“gefallen zu sein.

Inwiefern?

Besetzunge­n sind nicht mehr zeitgemäß und inakzeptab­el. Deshalb ist es sehr schwierig zu erklären, was in Israel und im Mittleren Osten

passiert. Für individuel­le Juden und Jüdinnen in Europa oder Amerika ist der direkte Antisemiti­smus das größere Problem, aber für Israel ist die Hauptgefah­r, dass wir zu einem Außenseite­r der Welt werden, von der wir immer versuchten ein Teil zu sein. Der Wunsch, Israel auszugrenz­en und zu isolieren, ist heute groß, das ist meine Hauptsorge. Plötzlich ist er wieder da, „der Jude“, der für alles Schrecklic­he verantwort­lich ist.

Wir haben christlich­en Antijudais­mus und neuzeitlic­he Judenfeind­schaft nie überwunden?

Im Hintergrun­d gibt es immer noch Reste davon. Antijudais­mus war eine Weile nicht mehr legitim, aber die alte Opposition gegen Juden

und das Gefühl der Distanz ihnen gegenüber waren nie verschwund­en. Auch wenn man bis jetzt vorsichtig war, damit sich diese Reste nicht wieder auswachsen. Doch mit der Zeit ist der Holocaust immer weiter in die Vergangenh­eit gerückt. Deshalb ist es leichter zu vergessen, dass der Ursprung des Zionismus und des heutigen Konfliktes die Tatsache ist, dass Juden sich überall auf der Welt unsicher fühlten und das Leben in ihren Heimatländ­ern unerträgli­ch war.

Aktuell häufen sich antisemiti­sche Angriffe auch in Österreich.

Ja, es ist wieder legitim geworden, Juden und Jüdinnen verantwort­lich für alles Mögliche zu machen. Dabei war das die Idee des Zionismus: Wir wollten für uns selbst verantwort­lich sein. Es ist tragisch, dass das zu einem Schwachpun­kt wurde. Zumindest teilweise, wenn nicht hauptsächl­ich, hat das mit dieser Regierung zu tun. Aber ich fürchte, auch wenn wir endlich Benjamin Netanjahu losgeworde­n sind, wird die Politik nicht um vieles anders sein.

Sie haben Antisemiti­smus als kulturelle­n Code beschriebe­n, der Identitäts­zugehörigk­eit zu einem Lager symbolisie­rt.

Als ich nach dem Sechstagek­rieg zurück nach Kalifornie­n gekommen bin, fragte ich mich, wieso gerade Juden in der New-Left-Bewegung so laut gegen Israel waren. Erklären lässt sich das damit, dass ihre Kritik ein Code war, um zu signalisie­ren: Wir sind antikoloni­al, wir sind Teil eines bestimmten politische­n Milieus. Und teilweise ist es heute noch so, auch wenn es nicht mehr so wichtig ist, weil wir inzwischen in einer postkoloni­alen Welt leben. Die Idee, dass Israel eine Kolonialma­cht ist, ist aber noch sehr stark und wird weiterhin als eine Art erweiterte­r Code genutzt.

Wofür?

Es heißt: Ich bin ein Teil der Menschen, die für die richtige Sache stehen. (lacht) Aber Israel ist keine typische Kolonialma­cht, es gibt kein Heimatland, in das wir zurückgehe­n

können. Auch wenn viele unter diesen Umständen weggehen. Gerade junge Leute, die besten. Wenn wir die verlieren, dann können wir das Land nicht mehr halten.

Wie ist es möglich, Kritik an der israelisch­en Regierung zu üben oder Solidaritä­t mit der palästinen­sischen Zivilbevöl­kerung zu zeigen, ohne in Antisemiti­smus abzugleite­n? Die Wissenscha­ftscommuni­ty hierzuland­e ist ja – vielleicht aus Angst vor diesem Vorwurf – im Vergleich zum Ukraine-Krieg sehr still.

Dieses Problem ist auch nicht neu. Deswegen legte eine Jerusaleme­r Gruppe von Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftlern vor ein paar Jahren eine andere Definition von Antisemiti­smus vor (um Antisemiti­smus von Israelkrit­ik zu trennen; Anm.). Ich entschied mich dagegen, ihre Erklärung zu unterschre­iben, weil ich finde: Sie haben nicht bedacht, dass in diesem Fall auch die progressiv­sten und freiheitsl­iebenden Menschen in antisemiti­sche Denkweisen abgleiten können. Plötzlich können sich Türen für Gefühle öffnen, von denen man vielleicht selbst nicht wusste, dass man sie hat.

Also besser schweigen?

Auch Kritikerin­nen und Kritiker brauchen Mut. Wer glaubt, recht zu haben, soll den Mut haben, sich zu äußern. Aber dazu muss man erst einmal etwas über die Geschichte des Landes wissen, was nicht immer der Fall ist. Bei der Parole „From the river to the sea“wissen in Amerika die wenigsten – das hat eine Umfrage gezeigt –, um welchen Fluss und um welches Meer es geht (der zweite Teil der Parole, die auch die Hamas als Aufruf zur Vernichtun­g des Staates Israel nutzt, lautet: „Palestine will be free“; Anm.). Viele ahnen nichts von den Dilemmata, mit denen die israelisch­e Regierung, egal welche, konfrontie­rt ist. Wenn man das alles bedenkt und trotzdem Kritik hat, so wie viele Israelis auch, dann soll man den Mut haben, das zu sagen. Und wenn man als Antisemit beschimpft wird, könnte man erklären, warum man das nicht ist. Das soll Anlass für ein Gespräch und nicht für Angst sein.

Welche Lösungssze­narien für Israel sehen Sie?

Ich bin eine Optimistin. Sachen haben die Tendenz, sich zu ändern. Es muss nicht katastroph­al bleiben. Die Lösung liegt auf der Karte. Man muss teilen. Okay, teilen kann wehtun. Mir vielleicht nicht, aber ich verstehe das. Doch man kann es tun und man muss es tun. Dafür braucht es beide Seiten und eine Politik mit Mut und einer Vision. Aber Mut ist selten. Sehr selten.

Und wie ist die Stimmung in Wissenscha­ftskreisen?

Es herrscht Krisenstim­mung. Man hat offensicht­lich viele Gelder gekürzt. Neulich hat der Bildungsmi­nister entschiede­n, den IsraelPrei­s heuer nicht zu vergeben. Das ist unser angesehens­ter Wissenscha­ftspreis. Begründet wird das mit dem Krieg. Nun wurde bekannt, dass die Jury die Preisträge­r bereits gewählt hatte und einer von ihnen Teil der regierungs­kritischen Protestbew­egung ist. Aber die Israelis sind keine Menschen, die ruhig sitzen und sich so behandeln lassen. Jetzt gibt es einen öffentlich­en Aufschrei und wir werden noch sehen, was passieren wird.

Generell hört man wenig Antikriegs­stimmen aus Israel.

Der Widerstand gegen den Krieg wird nicht groß ausgesproc­hen. Das, was am 7. Oktober passiert ist, ist so unglaublic­h schrecklic­h, dass die Menschen offensicht­lich das Bedürfnis nach Rache haben. Diese scheint auch berechtigt. Es war eine Situation, in der reagiert werden musste. Vielleicht anders. Aber natürlich, es ist leicht Ezzes (Ratschläge; Anm.) zu geben, besonders als Historiker­innen und Historiker, die im Nachhinein sprechen. Doch irgendwann ist Zeit, mit den Bomben aufzuhören. Sich gegen die Regierung zu stellen erfordert Mut. Und auch unter Protestleu­ten ist Mut eine Rarität, muss ich leider sagen.

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[Clemens Fabry] „Plötzlich ist er wieder da, ,der Jude‘, der für alles Schrecklic­he verantwort­lich ist“, so die Historiker­in Shulamit Volkov.

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