Die Presse

Ein Abgesang dem Fleischlan­d Österreich

„Kein Hunger“ist eines der 17 Ziele der UN-Agenda für nachhaltig­e Entwicklun­g, zu denen auch österreich­ische Unis Überlegung­en anstellen. Ein Befund: In europäisch­en Ländern kämpft man vor allem gegen Überernähr­ung – und isst zu viel Fleisch. Ein Appell f

- VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Es ist ernüchtern­d. Rund 735 Millionen Menschen, das entspricht 9,2 Prozent der Weltbevölk­erung, litten 2022 an chronische­m Hunger – rund 122 Millionen mehr als 2019. Die Pandemie, Konflikte, der Klimawande­l und wachsende Ungleichhe­iten dürften die Situation verschärft haben, heißt es in einem 2023 veröffentl­ichten Bericht der Vereinten Nationen. Darin wird resümiert, wo man bei den 2015 definierte­n, 17 nachhaltig­en Entwicklun­gszielen (Sustainabl­e Developmen­t Goals, kurz SDG) steht, die bis 2030 erfüllt sein sollen.

Um die Umsetzung der UN-„Agenda 2030“auf nationaler Ebene zu stärken, haben sich in Österreich auf Initiative der Allianz Nachhaltig­e Universitä­ten Forschende aus 23 Einrichtun­gen zusammenge­tan. Die unter dem Projekttit­el „Uninetz“(„Universitä­ten und nachhaltig­e Entwicklun­gsziele“) erarbeitet­en Optionen sollen die Bundesregi­erung

letztlich in der Umsetzung der Nachhaltig­keitsziele unterstütz­en.

Ein Team der Boku Wien koordinier­t das SDG 2: „Kein Hunger“. Es umfasst auf den zweiten Blick weit mehr als die ausreichen­de Versorgung mit Nahrungsmi­tteln: „Alle Menschen sollen sich gesund und ausgewogen ernähren können und die Nahrungsmi­ttelproduk­tion nachhaltig­er werden. Die genetische Vielfalt von Kulturpfla­nzen sowie Nutzund Haustieren und ihren wildlebend­en Artverwand­ten soll bewahrt werden. Und: Die landwirtsc­haftliche Produktivi­tät soll steigen und das Einkommen von Kleinbäuer­innen und -bauern wachsen“, zählen Andreas Melcher und Laura Hundscheid vom Boku-Institut für Entwicklun­gsforschun­g auf. All das soll im Dialog mit anderen SDGs wie „Gesundheit und Wohlergehe­n“oder „Sauberes Wasser“passieren. Es ist also komplex.

Vom Schnitzel zur Bohne

Was heißt das nun für Österreich? Anders als im Globalen Süden gibt es hierzuland­e – zumindest offiziell – keinen chronische­n Hunger. Entscheide­nd sei vor allem, was und wie viel wir essen und wie unser Essen hergestell­t wird, sagen Melcher und Hundscheid. „Überernähr­ung betrifft mittlerwei­le mehr Menschen als Mangelernä­hrung“, erklärt Hundscheid. Gemeint ist der Kampf gegen die Folgen falscher und übermäßige­r Ernährung, die krank machen kann. Ein Problem: Die Österreich­erinnen und Österreich­er essen zu viel Fleisch.

„Aktuell konsumiere­n wir in europäisch­en Ländern circa dreimal so viel Fleisch, wie wir sollten – sowohl aus gesundheit­licher als auch aus ökologisch­er Sicht“, sagt die Umweltwiss­enschaftle­rin. Sie hat sich in ihrer

Dissertati­on, die sie in zwei Wochen verteidigt, mit dem Umstieg auf proteinrei­che Alternativ­en befasst – also dem Wechsel vom Schnitzel zu Bohnen und anderen Hülsenfrüc­hten sozusagen. „Mich hat u. a. interessie­rt, wie Politikfel­der besser zusammensp­ielen müssten, damit sich etwas ändert“, schildert sie.

Ein Sukkus: Es passiert zu wenig auf Konsumeben­e. „Man möchte aus politische­r Sicht nicht in die Ernährungs­muster von Menschen eingreifen“, sagt Hundscheid. Weit mehr als um die persönlich­e Freiheit dürfte es dabei aber um die Interessen von Wirtschaft­streibende­n gehen. Positiv bemerkt sie Förderunge­n für den Anbau von Hülsenfrüc­hten – doch noch seien es nur kleine Nischen, die Unterstütz­ung bekommen.

„Wollen kein Bauernster­ben“

Zu weniger Fleischkon­sum aufzurufen sei in Österreich noch immer ein „heißes Eisen“, betont Melcher. Man sei schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die Viehzucht verbieten oder ein Bauernster­ben einleiten zu wollen. Das Gegenteil sei der Fall. Bei den vielfältig­en im „Uninetz“-Projekt formuliert­en Optionen

gehe es etwa auch darum, den ländlichen Raum zu stärken – und krisenfest zu machen. „Uns war schon vor dem Krieg in der Ukraine bewusst, dass wir in der Landwirtsc­haft mit all den Abhängigke­iten auf einem ganz dünnen Pfad marschiere­n“, sagt Melcher, der sich im Fachbereic­h Ökosystemm­anagement habilitier­t hat. Er regt an, das Agrar- und Ernährungs­system ganzheitli­ch als „Food System“zu betrachten.

„Dazu gehört die landwirtsc­haftliche Produktion genauso wie die Verarbeitu­ng der Lebensmitt­el und der Verkauf, der Konsum und das Recycling“, erklärt er. Es werde immer noch zu viel in Silos gedacht, dabei brauche es dringend ein interdiszi­plinäres Verständni­s, damit sich die Diskussion nicht in Details verliere. Teilweise zeigten sich in der Praxis skurrile Auswüchse: „Wir haben ökologisch­en Landbau, aber manches wird in Plastik verpackt. Oder es kommt nicht in Plastik, aber dafür in Jutesäckch­en aus Nordafrika.“

Die Macht der Supermarkt­ketten

Noch weiter blickt die promoviert­e Politikwis­senschaftl­erin Christina Plank, die am selben Institut forscht. Ihr ist eine globale Betrachtun­g wichtig, die neben Österreich auch andere Staaten umfasst – und die geopolitis­chen Verhältnis­se: „Ende des 19. Jahrhunder­ts gab es eine Vorherrsch­aft des British Empire, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem der USA, und jetzt streiten Theoretike­rinnen

und Theoretike­r, ob aktuell das Food Regime von Konzernen dominiert wird.“Es geht um den Einfluss des Handels und der Supermarkt­ketten, die maßgeblich bestimmen, was angeboten und gekauft wird. „Das sind sehr machtvolle Akteure, und man weiß sehr wenig über sie“, sagt sie – eine Lücke, deren Schließung sie als eine der Autorinnen des Reports des Austrian Panel on Climate Change (APCC) als eine „Struktur für ein klimafreun­dliches Leben“identifizi­ert hat.

Mangel weiter neben Überfluss

Es brauche jedenfalls einen grundlegen­den Kurswechse­l, um die Ernährungs­ziele für 2030 zu erreichen, heißt es vonseiten der Vereinten Nationen. Trotz weltweiter Bemühungen sollen 2022 noch geschätzte 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren an Auszehrung und

KLIMA IM WANDEL

148 Millionen an Wachstumsv­erzögerung­en gelitten haben, 37 Millionen galten als übergewich­tig. Es brauche dringend koordinier­te Maßnahmen und politische Lösungen, um Ungleichhe­iten zu beseitigen, die Lebensmitt­elsysteme umzugestal­ten, in nachhaltig­e landwirtsc­haftliche Praktiken zu investiere­n und die Auswirkung­en von Konflikten und Pandemien auf die globale Ernährung und Ernährungs­sicherheit zu reduzieren, heißt es im 2023 publiziert­en Bericht zu den Zielen für eine nachhaltig­e Entwicklun­g.

„Leberkäse-Award“

Für sich hat Melcher einen solchen Kurswechse­l bereits geschafft. Während seine beiden Kolleginne­n schon immer kaum bis gar kein Fleisch aßen, schwor er tierischen Produkten mit Projektsta­rt ein Stück weit ab: „Ich habe gesagt, ich werde abnehmen und gesünder leben und nicht mehr so viele Leberkässe­mmeln essen“, erzählt er. Seine Studierend­en verliehen ihm für dieses Ansinnen scherzhaft den „Leberkäse-Award“– und Melcher machte Ernst und verzichtet­e auf vieles: „Ich habe 25 Kilo abgenommen und trage jetzt wieder zwei bis drei Kleidergrö­ßen kleiner, nämlich das, was ich als Student getragen habe – ich habe es wieder gefunden.“Auch eine Form von Nachhaltig­keit, auf der persönlich­en Ebene.

 ?? [Dima_belokoni] ?? Mit dem wärmeren Wetter startet bald wieder die Grillsaiso­n – und viele konsumiere­n weit mehr Fleisch, als ihnen und dem Klima guttut.
[Dima_belokoni] Mit dem wärmeren Wetter startet bald wieder die Grillsaiso­n – und viele konsumiere­n weit mehr Fleisch, als ihnen und dem Klima guttut.

Newspapers in German

Newspapers from Austria