Der Doktor Freud des Obstverkaufs
Es ist auf unserem Planeten so üblich, dass überall ein Chef auf uns wartet. Wirklich jeder hat einen. Die Kinder im Kindergarten müssen hüpfen, wie die Tante es will. Und die Eltern machen es ihnen in der Firma nach. Sogar die KI ist nichts ohne eine Steckdose. Also war ich logischerweise neugierig auf meinen künftigen Vorgesetzten. Ich hatte schon ein paar Jobs und kannte das dritte thermodynamische Gesetz der Arbeiterklasse: Wo immer du auch landest, dein Chef ist dumm wie Brot und versucht seine Dummheit dir in die Schuhe zu schieben.
Die Entwarnung kam postwendend. Mein Chef war ein Glücksgriff. Er war über sechzig und so kräftig, dass er die volle Apfelkiste mit einer Hand hob. Leute vom Land können das. Gleichzeitig beherrschte er die feinen Zwischentöne.
„Ich habe kapiert, dass Ihnen am Schreibtisch langweilig ist und Sie was erleben möchten“, glänzte er mit Mann-zuMann-Empathie: „Aber wann sind Sie das letzte Mal um 6 Uhr aufgestanden? Außer um aufs Klo zu gehen?“Es gab keinen Grund, die Wahrheit zu verschweigen: „Noch nie, soviel ich weiß.“
„Mich wundert nichts mehr“, schüttelte der Chef den Kopf und ging zur ersten Lektion über: „Sie dürfen sich nie beim Geldherausgeben irren, verstanden?“„Und wenn doch?“
„Dann Gnade uns Gott. Das ist ein Bobo-Viertel. Die Leute hier lächeln in einem Moment und werden im nächsten zu Furien.“Seine Weltsicht gefiel mir. „Was muss ich noch wissen, Chef?“
„Seien Sie sympathisch zu den Unsympathlern, großzügig bei den Gierigen und geduldig mit den Grantigen.“
„Reden wir noch von einem Verkäufer oder schon von einem Paartherapeuten?“
Der Chef lächelte zum ersten Mal. Er hatte ein wirklich sympathisches Lächeln. Auch das gibt’s nur noch auf dem Land. „Wenigstens sind Sie schnell von Begriff. Hoffentlich lernen Sie auch so schnell, die Kisten zu stapeln“, lobte er mich.
Ich habe in Büros, Lagern und sogar in einer Sauna gearbeitet. Aber nirgendwo vergeht die Zeit so schnell wie auf dem Markt. Mit dem Chef war die Arbeit reinstes Vergnügen. Kein Gemecker, kein Belehren. War ein Kunde frech zu mir, sprang der Chef dazwischen mit seinem Land-Lächeln. Er ließ sie irgendwo in der Luft verschwinden. Ein Doktor Freud des Obstverkaufs.
Am ersten Abend, als wir den Stand eingeräumt hatten, kam der Chef mit zwei Bierflaschen. Wir machten Sie auf Männerart mit dem Feuerzeug auf, wobei ich mir statt der Bierflasche fast meine Hand aufgemacht hätte. „Mich wundert nichts mehr“, prostete der Chef mir zu, und ich fragte ihn endlich, was mir den ganzen Tag keine Ruhe gelassen hatten: „Wie lange machen Sie das schon, Chef?“– „Nächstes Jahr werden es 30 Jahre“, sagte er und starrte auf die Kirche, die gerade von einem Sonnenstrahl getroffen wurde. „Und wie lange wollen Sie es noch machen?“Der Chef nahm einen tiefen Schluck. Noch etwas tiefer, und er hätte sich eine zweite Flasche besorgen müssen. „Bis Sie die Gala-Äpfel von den Topas unterscheiden können.“– „So lange?“, grinste ich. „Ich habe Zeit“, sagte der Chef.
Wir sahen zur Kirche. Der Sonnenstrahl hatte die Mauer inzwischen ganz erfasst. Es sah aus, als wollte er das ganze Kirchengebäude in wenigen Sekunden gelb streichen. Einen besseren Film gab es in keinem Kino.