Stefan Thurner: Ja, beim Klima wird gelogen
schen Bombe werden, sodass am Schluss entweder gar niemand mehr mitmachen will oder Maßnahmen zu radikal umgesetzt werden.
Jedenfalls setzt sich eine ganze Reihe von engagierten, mutigen Politiker:innen, Aktivist:innen und Bürger:innen weltweit, EUweit und österreichweit tatkräftig und unzweifelhaft dafür ein, um wirklich Wirkliches zu bewirken – bis an die Limits. Leider gibt es diese Limits. Sie kommen daher, dass fossile Energie derart zentral mit unserer Lebensweise verwoben ist, dass ein abrupter Ausstieg nicht möglich ist, wenn man den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft nicht aufs Spiel setzen will. Wo hier die Kipppunkte liegen, weiß keiner.
Tatsache ist, dass wir Energiejunkies sind. Wo, wem und wie soll ich fossile Energie wegnehmen? Zur Verdeutlichung: Ottonormal Österreicher:in verbraucht im Schnitt etwa 3000 Liter Diesel im Jahr. Rechnet man für das Auto 700, die Heizung 400, die Fernreise 350 und den Strom 50 Liter weg, wo bleibt der Rest? Die andere Hälfte, die 1500 Liter? Die stecken in der Zahnbürste, im Zahnputzglas, dem Kanalrohr, dem Beton im Fundament, dem Eisen im Beton, dem Anteil an der Bahntrasse und in der Instandhaltung der Autobahnbrücken. Ein unmittelbares Net Zero würde also nicht nur Wohnungen kalt lassen und die Fernreise absagen, sondern auch den Verzicht auf die Instandhaltung des Kanals und der Eisenbahn bedeuten und die Bauern auf den Plan rufen. Will das wer? Wird Energie teurer, produziert das unmittelbar extreme Spannungen, die sich niemand wünschen kann. Die Energiewende bedeutet massive Umstrukturierung und damit einhergehend sozialen Stress. Wie viel Stress? Keiner weiß es.
Netzwerke können ausfallen
Das andere Limit betrifft die Wirtschaft. Wird Energie zu schnell signifikant teurer, werden nicht nur soziale Ungleichheiten sichtbar und für viele unmittelbar spürbar, sondern es können Lieferketten gefährdet werden. Lieferketten, der Metabolismus jeder Gesellschaft, sind eines der komplexesten Gebilde auf dem Planeten, ein dynamisches globales Netzwerk, das buchstäblich alles für alle herstellt, indem es praktisch alle einbindet und koordiniert handeln lässt, alle acht Milliarden. Der Reichtum, den viele dieser acht Milliarden genießen dürfen, basiert auf extrem billiger Energie, die diese Lieferketten in Schwung halten.
Ein Problem mit diesen Lieferketten ist, dass es genau genommen keine Ketten sind, sondern Netzwerke. Und sie können wie viele Netzwerke kaputt gehen. Wenn eine einzelne Firma ausfällt, passiert in den allermeisten Fällen gar nichts, sie wird durch eine andere Firma ersetzt, und alles funktioniert wie bisher. Manchmal aber, wenn eine „systemisch relevante“Firma ausfällt und sie nicht ersetzt werden kann, reißt sie ihre Kunden und/oder Zulieferer mit in einen Konkurs, diese wiederum andere und so weiter, bis auch große Firmen davon betroffen sind und die Produktion in großem Stil wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Das passiert zwar nicht oft, aber immer öfter. Brechen Lieferketten, bricht alles. Die Auswirkungen können systemisch sein, also katastrophal.
Jetzt bedeutet die Energiewende abstrakt gedacht nichts anderes als die Umgestaltung dieses Lieferkettennetzwerks. Und zwar im besten Fall so, dass es mehr oder weniger die gleichen Güter und Dienstleistungen hervorbringt wie derzeit, mit den gleichen Menschen, die mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet sind wie jetzt. Nur mit dem Unterschied, dass die Firmen gezielt auf erneuerbare Energien umsteigen und sich neu vernetzen. Durch diese Umgestaltung sinkt in Teilen der Lieferkette der Carbongehalt drastisch. Die Politik gibt in unserem Gedankenexperiment Anreize: Würde sie die Lieferketten kennen und wissen, welchen Energiemix die einzelnen Firmen einer Volkswirtschaft haben, könnte sie den Umstieg auf erneuerbare Energie fördern – aber nicht mit der Gießkanne wie bisher, sondern gezielt. Was heißt gezielt? So, dass Emissionen maximal reduziert werden, unter der Bedingung, dass am wenigsten sozialer Stress und Schaden angerichtet wird. Also eine Optimierungsaufgabe. Ein Thema für die Wissenschaft? Ja, genau, so ist es.
Am Complexity Science Hub konnten wir vor Kurzem zeigen, dass es einen riesigen Unterschied macht, auf welche Art man Lieferketten umgestaltet, um zu einer deutlich emissionsärmeren Wirtschaft zu gelangen. Wenn man Energie einfach teurer macht, etwa durch CO2-Besteuerung fossiler Brennstoffe, ändert sich an der Struktur der Lieferketten wenig. Im Resultat wird alles teurer, der Konsum wird weniger, die Ärmeren spüren es zuerst, soziale Spannungen nehmen zu. Wenn man aber speziell ausgewählte Firmen dazu bringt, ihre Emissionen zu drücken, und ihnen beim Umstieg punktgenau hilft, kann man Emissionen drastisch reduzieren, praktisch ohne neue soziale Spannungen aufzubauen. Welche Firmen das sind, und welche Spannungen wo vermutlich auftauchen und abzufedern wären, kann man berechnen. Vorsichtig muss man etwa bei Firmen sein, die hohe Emissionen haben, aber gleichzeitig „sozial relevant“sind, also sehr viel Schaden im Lieferkettennetzwerk anrichten würden (etwa Arbeitslosigkeit), wenn sie zusperrten.
Das ist nicht nur wissenschaftlich faszinierend und ein vollkommen neues Feld, es könnte zu einem echten Gamechanger in Sachen Energiewende werden: ein im Voraus berechenbarer minimal-invasiver Eingriff in die Wirtschaft mit optimalen Auswirkungen hinsichtlich Emissionen und sozialer Konsequenzen.
Es geht auch minimal-invasiv
Das funktioniert nur, wenn man die Lieferketten inklusive der Energielieferungen auf Firmenebene kennt, viele Länder erheben solche Daten. Österreich ist, wie so oft bei Datenverfügbarkeit, leider nicht dabei, wohl im Vertrauen darauf, dass man eh nicht viel verpasst, wenn man die Zukunft verschläft. Diese minimal-invasiven datenbasierten Vorgehensweisen könnten eine echte Alternative zu den derzeitigen Ansätzen bieten, die in ihren extremen Ausformungen alle falsch anmuten: Ein radikaler oder revolutionärer Dekarbonierungsansatz ist falsch, weil er zu schnell soziale Spannungen erzeugt, ein konservativer Ansatz mit zu langsamer Reduktion der fossilen Energieträger ist falsch, weil er in die andere Katastrophe führt.
Man muss es einfach nur richtig machen. Wissenschaft hilft.
‘‘ Wir sind allesamt Energiejunkies. Jetzt fragt sich: Welchem Junkie soll ich fossile Energie wegnehmen und wie viel?